Das Geheimnis der Krähentochter
anzuzünden. Der Schein der Flammen
durchzog das Gebäude auf geisterhafte Weise. Die Geräusche der Schlacht
verklangen.
»Es ist noch nicht vorüber«, sagte Poppel leise zu Bernina, die
sich die Hände in einem Eimer mit Wasser wusch. »Es gibt noch keinen Sieger,
noch keine Entscheidung.«
»Warum?«
»Ich habe das schon so oft erlebt. Wenn es wirklich vorbei wäre,
könnte man das hören. Der Jubel, das Geschrei der Sieger, die Gesänge, die
beginnenden Saufgelage.« Der Blick des Arztes verschleierte sich ein wenig. »Es
ist dann immer das Gleiche. Von den Soldaten fällt alles ab. Ihnen wird
bewusst, dass sie noch leben und die Stadt ihnen gehört. Glauben Sie mir,
Bernina, man hört es, wenn eine Schlacht ihr Ende gefunden hat. Hier steht uns
noch einiges bevor. Aber allzu gerne würde ich wissen, wer im Moment die
Oberhand hat. Arnim war eigentlich schon der sichere Sieger. Doch wer weiß …«
Balthasar stand plötzlich neben ihnen. »Wenn Sie möchten, Herr
Poppel, mach ich mich mal auf den Weg durch die Straßen …«
»Kommt nicht infrage. Das kann für jeden verdammt gefährlich
werden, selbst für einen Baum von einem Mann, wie du es bist.«
»Ich kann schon auf mich aufpassen«, erwiderte Balthasar und
strich sich durch den Bart. Mit großen Schritten verließ er den Turm, ohne den
weiteren Protesten des Arztes Beachtung zu schenken.
Und erst jetzt, während sie beide sich erholten, erzählte Bernina
dem Arzt von dem, was sie auf Schoss Wasserhain und der gespenstischen, im Wald
versteckten Festung erlebt hatte. Als sie geendet hatte, sah Poppel sie mit
eindringlichem Blick an.
»Bernina, wenn der Oberst überlebt hat, sollten Sie wirklich
darauf hoffen, dass weder Sie noch Anselmo ihm jemals wieder begegnen. Er ist
nicht der Mann, der all das einfach auf sich beruhen lässt. Ich kann mir
vorstellen, wie tief der Zorn ist, den er nun für Sie hegt, Bernina. Sie haben
seinen Stolz verletzt. Das ist für einen Menschen wie ihn so ziemlich die
empfindlichste Stelle, die er hat.«
»Das ist mir klar, Her Poppel.«
»Meine Liebe, das muss es auch sein.«
Kurz nach diesem Gespräch nutzte Bernina die Gelegenheit, um
erneut in Anselmos Zimmer zu schlüpfen. Zuvor hatte ihr der Arzt etwas Brot
zugesteckt, das sie mit Anselmo teilte. Es dauerte nicht lange, bis Melchert
Poppel ihr hierher folgte, noch müder, noch erschöpfter als zuvor. Sein
Gesichtsausdruck war irgendwie verändert, Bernina erkannte das augenblicklich.
»Was gibt es, Herr Poppel?«
Der Arzt setzte sich auf einen der beiden Schemel und bettete
seinen Arm auf den Tisch. »Balthasar ist bereits zurückgekommen.« Er hob die
Hand. »Keine Sorge, ganz wohlbehalten. Und er hat einiges herausgefunden.«
»Nun erzählen Sie schon.«
»Es ist so, wie ich es vermutet hatte. Die
kaiserlichen Armeen waren so gut wie geschlagen. Doch auf einmal erhielten sie
Unterstützung, mit der niemand mehr gerechnet hatte. Eine weitere kaiserliche
Reiterarmee griff die Belagerer an, die schon längst ins Innere der Stadt
vorgedrungen waren. Es wurde nichts aus Arnim von der Taubers großem Sieg. Nun
ja, zumindest noch nicht.«
Bernina und Anselmo sahen ihn an. »Und weiter?«, drängte Anselmo.
»Was meint ihr wohl, welcher große Held die Kavallerie angeführt
hat? Wem ist es zu verdanken, dass Offenburg und die Truppen des Kaisers nicht
untergingen? Ein Mann, von dem es schon oft hieß, er wäre längst tot. Ein Mann,
der zur Legende geworden ist. Ein Mann, den Sie sehr gut kennen, Bernina.«
»Also lebt er tatsächlich noch«, meinte sie verhalten.
»Ja, er lebt noch. Und wie er lebt. Seit Sie
ihn zuletzt auf dieser Festung sahen, Bernina, ist nicht sonderlich viel Zeit
verstrichen. Aber sie hat ihm ausgereicht, um sich an die Spitze einer Armee zu
setzen und die Bühne des Krieges erneut zu betreten. Allein seine Anwesenheit
wird die kaiserlichen Kampfeinheiten beflügeln.«
Bernina äußerte kein Wort.
»Bernina, ich befürchte, Jakob von
Falkenberg ist nicht nur für Ruhm und Ehre in Offenburg aufgetaucht. Diese
Stadt wird für Sie ab jetzt noch viel gefährlicher sein. Für Sie und Anselmo.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Anselmo.
»Ihr müsst verschwinden.« Poppel erhob sich. »Und zwar
unverzüglich.«
»Aber wohin?«
»Leider habe ich keine Ahnung. Doch wenn ihr hierbleibt …«
Zusammengesunken stand der Arzt da. Er kreuzte die Hände vor seinem flachen
Bauch. »Ich weiß auch nicht, aber ich habe wirklich kein gutes
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