Das Geheimnis der Krähentochter
immer
tragen. Willst du ihn mir überstreifen?«
Der Kampfeslärm drang plötzlich nicht mehr in ihr Bewusstsein. Es
war, als wären sie ganz allein, irgendwo, weit entfernt. Vorsichtig nahm
Anselmo ihre Hand in seine. Er zog den Ring über ihren Finger. Sie küssten
sich.
Erst Poppels Worte brachten sie dazu, ihre Lippen wieder
voneinander zu lösen. Überrascht sahen sie auf.
»Da hat sich irgendetwas getan!«, rief der Arzt.
Bernina sprang auf, und zum ersten Mal schaffte es auch Anselmo
auf seine Beine, noch sichtlich geschwächt. Zu dritt drängten sie sich vor das
Rundfenster.
Die Straße war übersät mit Blut überströmten, toten Körpern.
Verzweifelte Kämpfe Mann gegen Mann, Reitersoldaten tauchten auf, die aus dem
Sattel heraus mit Degen und Kurzschwertern nach Fliehenden schlugen. Von den
Kanonen war nichts mehr zu hören. Auch Musketenschüsse fielen bloß noch ganz
vereinzelt.
»Seht euch das nur an«, meinte Poppel.
»Was meinen Sie?«, fragte Bernina mit gerunzelter Stirn.
»Die Reiter«, antwortete er rasch. »Das sind Männer des Kaisers.
Und das, obwohl Benedikt von Korth und sein Gefolge eindeutig in der Unterzahl
waren.«
»Ich verstehe immer noch nicht«, sagte sie. »Es war bloß noch eine
Frage der Zeit, bis die kaiserlichen Truppen überwältigt werden würden. Da wird
viel länger gekämpft, als ich es für möglich gehalten hätte. Und jetzt diese
Reitersoldaten …«
»Sie denken«, meldete sich Anselmo mit leiser Stimme zu Wort, »da
ist von irgendwoher Unterstützung aufgetaucht?«
»Genau das meine ich.« Und Poppel wurde wieder lauter: »Das ist
vielleicht noch nicht das Wunder, das ich mir erhoffte. Aber wer weiß,
womöglich ist unser Ende doch noch nicht so nahe. Ich muss zurück zu den
Verletzten.«
Bernina setzte sich neben Anselmo, der sich wieder hingelegt hatte
und dessen Ring sie an ihrem Finger spürte. Sie strich ihm durchs Haar. Seine
Augen waren geschlossen, aber bei der Berührung zeigte sich ein Lächeln auf
seinen Lippen. Bernina machte sich aber nicht nur um ihn Sorgen, auch Poppels
Zustand beunruhigte sie.
Als Anselmo nach kurzem Schlaf wieder die
Augen öffnete, war er einen Moment lang verwirrt, dann wurde sein Blick klar.
»Du musst nicht bei mir bleiben«, sagte Anselmo plötzlich.
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß, dass du darüber nachdenkst, Poppel zur Hand zu gehen.
Er hat sicher jede Menge mit den Verwundeten zu tun.«
»Aber ich möchte viel lieber bei dir bleiben.«
»Mir kannst du doch nicht helfen. Poppel sagt, was mir jetzt noch
fehlt, ist Schlaf.« Aufmunternd nickte er ihr zu. »Er hat mir erzählt, was du
alles geleistet hast – während der Flucht aus Ippenheim, auf dem
Schlachtfeld.«
»Er hat gewiss übertrieben.«
»Nein, das hat er nicht. Er weiß, was für eine außergewöhnliche
Frau du bist. Und ich wusste das schon immer. Du sollst hier nicht zum
Nichtstun verdammt sein.«
»Du kennst mich besser, als ich dachte«, erwiderte sie leise.
»Und ob ich das tue.«
Kurz darauf lief Bernina die schiefe Holztreppe vom ersten Stock
ins Erdgeschoss nach unten. Sie stieß auf Balthasar, der nahe dem Eingang
Strohlager herrichtete für neue Verletzte, die nach und nach im Lazarett
eintreffen würden. Sie erkundigte sich nach dem Arzt und Balthasar wies nur kurz
nach oben. Schließlich fand sie Poppel in einem der oberen Stockwerke. Er hatte
seinen Rock abgelegt und beugte sich, die Ärmel weit nach oben gerollt, das
Gesicht schmutzig und verschwitzt, über einen Tisch, auf dem ein Mann mit einer
Schussverletzung lag. Dankbar fiel Poppels Blick auf sie.
»Da bin ich«, sagte Bernina.
»Sie ahnen nicht, wie sehr mich das freut.«
Die Verwundeten reihten sich Seite an Seite
auf dem Boden, entweder auf löchrigen Decken oder auf Stroh. Bernina sah sich
kurz um, dann schritt sie zur Tat. Sie wechselte Verbände, reinigte Wunden,
sprach Trost zu, so wie schon einmal, und fast kam es ihr vor, als wäre seit
damals kaum Zeit vergangen. Von Zimmer zu Zimmer lief sie, hörte den Verletzten
zu. Viele von ihnen, geschüttelt von Fieber und Furcht, wollten wissen, wann
die Schlacht vorüber sei, wann sie nach Hause könnten, wann sie sterben
müssten. Sie gab ihnen Wasser zu trinken und kühlte ihre Köpfe mit feuchten
Lappen, und hin und wieder sah sie nach Anselmo, der sie jedes Mal mit einem beruhigendem
Lächeln empfing.
Es wurde Abend. Balthasar lief durch den gesamten Turm, um in
jedem Zimmer Talgkerzen aufzustellen und
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