Das Geheimnis der Krähentochter
aus. Und dabei«, seine Stimme wurde zynisch, »war
ich doch immer ein so erfolgreicher Eroberer.«
Auf einmal ein Geräusch in Berninas Rücken. Sie fuhr herum und
blickte in Anselmos Augen. Etwas wacklig stand er da, doch der Zorn, der in ihm
wuchs, war unübersehbar, war so deutlich spürbar wie eine plötzlich aufziehende
Kälte.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Bernina, dass auch der Oberst sich
erhob. Der ganze Raum füllte sich mit einer Spannung, und Bernina hatte das
Gefühl, ihre Kehle wäre wie zugeschnürt. Sie stand aufrecht da, zwischen diesen
beiden Männern, und in ihr war nichts anderes mehr als Angst.
»Anselmo«, hörte sie ihre leise, fast flehende Stimme, und mehr
konnte sie nicht sagen. Anselmo ergriff ihren Arm, überraschend flink, sodass
die Bewegung kaum zu sehen war, fester, als sie es ihm je zugetraut hätte. Er
versetzte ihr einen Stoß und sie prallte gegen die Wand.
Falkenbergs kalte Worte durchzogen das Zimmer: »Ich hätte dich
doch umbringen lassen sollen. Das hätte mir viel Ärger erspart.«
Anselmo schwieg. Er sah ihn nur mit starrem Blick an. Dann schlug
er zu, wiederum mit einer unglaublich schnellen Bewegung. Er erwischte das Kinn
des Obersts, der zu Boden ging, aber sofort wieder auf die Beine kam. Plötzlich
lag in seiner gesunden Rechten eine Pistole.
Die Tür sprang auf und der Soldat von vorhin stand im Rahmen.
»Herr Oberst …«
»Raus mit dir!«, schnitt Falkenberg ihm das Wort ab. »Ich brauche
mit Sicherheit keine Hilfe.«
Sofort schloss sich die Tür wieder.
Falkenberg richtete die Waffe genau auf die Brust Anselmos, der
ihm gegenüberstand. Furchtlos, noch immer mit diesem Zorn starrte er den Oberst
an.
»Fahr zur Hölle, du armseliger Vagabund.« Falkenberg bewegte beim
Sprechen nicht die Lippen, seine Stimme war nur noch ein Zischen.
Als er den Finger krümmte, hechtete Bernina durch das Zimmer und
stieß ihn zu Boden. Der Schuss hatte sich nicht gelöst, die Waffe fiel polternd
zu Boden. Falkenbergs Hand packte mit gandenlosem Griff ihr Haar und drückte
sie unter sich. Dann stand er bereits wieder, so gewandt wie zuvor.
Entsetzt sah Bernina, dass er plötzlich einen Dolch in der Hand
hielt. Anselmo wollte gerade einen zweiten Schlag ansetzen, als die Klinge in
seine Brust fuhr. Er sackte zusammen, lag da, das Heft des Messers wie ein
kleiner Turm auf seinem Oberkörper.
Bernina schrie auf und griff gleichzeitig nach der Pistole. Sie
ließ den Oberst in die Mündung blicken, der völlig regungslos dastand. Auf den
Knien rutschte sie zu Anselmo. Mit den Fingerspitzen ihrer linken Hand berührte
sie ganz leicht den Messergriff. So wie sie ihn schon einmal berührt
hatte – vor scheinbar unendlich langer Zeit im Wagen der alten Gauklerin.
Damals in Rosas Stein der Wahrheit.
Ihr Blick wanderte zu Falkenberg, dessen Augen nichts als Kälte
zeigten. Langsam ließ sie ab von dem Messer, langsam erhob sie sich. Ihre Hand
hielt die Waffe fest, und in diesem Moment fühlte sie etwas, das sie noch nie
gefühlt hatte, nicht einmal gegenüber des Grafen Pietro della Valle, für den
sie nur Abscheu empfunden hatte. Bernina fühlte Hass, brennenden Hass.
Erneut öffnete sich die Tür. Diesmal jedoch kam nicht der Soldat
zum Vorschein, sondern Melchert Poppel, gefolgt von der riesigen Gestalt
Balthasars.
»Nicht schießen!«, rief der Arzt, der die Situation sofort
erfasste. »Nicht schießen, Bernina! Sie machen sich nur für immer unglücklich.«
»Das ist mir egal.« Sie blickten sich an, Bernina und der Oberst,
und das, was es einmal zwischen ihnen gegeben hatte, war endgültig zerstört.
»Balthasar hat die Soldaten überwältigt«, redete Poppel
beschwörend auf Bernina ein. »Es ist alles in Ordnung, wir haben die Lage im
Griff. Bitte, Bernina, machen Sie sich nicht unglücklich.«
Noch immer die Mündung der Waffe genau vor der Brust des Obersts,
der gelassen über ihren Lauf hinweg Bernina ansah. »Hör nicht auf ihn, Bernina.
Schieß einfach. Du tust uns beiden einen Gefallen damit.« Auch ohne Falkenberg
aus dem Blick zu lassen, bemerkte Bernina, wie Poppel sich neben Anselmo
hinkniete. »Bernina.« Die Stimme des Arztes wurde noch beschwörender. »Anselmo
lebt. Sein Herz schlägt. Um Himmels willen, schießen Sie nicht, Sie würden es
auf ewig bereuen.«
»Na los, Bernina.« So ruhig dagegen die Worte Falkenbergs. So
ruhig der Blick seiner Augen. »Lass es uns zu Ende bringen.«
Kapitel 10
Das Vermächtnis des Malers
Die Talgkerzen
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