Das Geheimnis der Krähentochter
vereint. Ich kann es nicht glauben«, stieß er
hervor.
In leisen Worten berichtete sie ihm von Eusebios Schicksal, und
sein Blick trübte sich. »Er war der beste Freund, den ich je hatte.«
»Ich weiß.« Sie wollte sich eine Träne von der Wange wischen, aber
Anselmos Hand war schneller.
»Und er hat mir den größten Freundschaftsdienst erwiesen. Ihm
verdanke ich es, dass ich dich wiederhabe. Ihm und dem Arzt.« Er schluckte.
»Damit sind nur noch wenige unserer alten Truppe am Leben. Wer weiß, wo sie
stecken mögen.« Auf einmal gewann seine Stimme an Kraft. »Aber du und ich, wir
sind wieder zusammen. Du und ich, Bernina.« Ihm entging nicht, dass sie bei
diesen letzten Worten seinem Blick auswich. »Was ist, Bernina? Bist du nicht
glücklich?«
»Und wie glücklich ich bin. Ich würde nie die richtigen Worte
finden, um es dir beschreiben zu können.«
»Aber etwas scheint dich zu bedrücken.«
Der Regen, der ans Fenster trommelte, verlor bereits an Stärke.
Die Wolkendecke schien durchlässiger zu werden, und etwas mehr Helligkeit drang
in den Raum.
»Anselmo, ich bin nicht mehr dieselbe Frau,
ich bin nicht mehr die, die du damals im Schwarzwald kennengelernt hast.« Sie
blickte in seine blauen Augen und seufzte auf. »Ich will diesen Augenblick
nicht zerstören, aber es ist so viel passiert. Mit mir, Anselmo. Du musst
wissen, dass ich einen anderen Mann geliebt habe.«
Vorher hatte Bernina nie darüber nachgedacht, was sie ihm erzählen
würde, wenn sie sich wiedersahen. Doch nun sprudelten die Worte geradezu aus
ihr heraus. Das, was geschehen war, konnte sie nicht vergessen oder darüber
hinweggehen. Es musste ausgesprochen werden, sonst konnte es keinen neuen
Anfang geben. »Ja, Anselmo«, fuhr sie schnell fort. »Ich fühlte mich zu diesem
Mann hingezogen, und zwar sehr stark. Ich wollte ihn sogar heiraten, die
Hochzeit war längst geplant.« Sie schüttelte den Kopf, Verzweiflung mischte
sich in ihre Stimme. »Ich dachte, du wärst tot, ich versank in Kummer und
wachte plötzlich in einem neuen Leben auf. Und ich …«
Sanft legte sich Anselmos Finger auf ihre Lippen.
»Erzähle mir nicht mehr davon, Bernina. Alles, was ich wollte,
war, dich wieder an meiner Seite zu haben. Aber ich erwartete deshalb nicht,
dass du in der Zwischenzeit einfach aufgehört hast zu leben, nur weil wir auf
einmal getrennt wurden. Du musst mir gar nichts erzählen.«
»Doch, Anselmo, das muss ich«, widersprach sie unter Tränen. »Ich
bin einfach nicht mehr die, die du kanntest. Dieser Mann und ich. Wir waren
zusammen. So eng wie man nur zusammen sein kann.«
Erneut sein Finger, der ihre Lippen berührte, erneut sehr sanft,
aber trotzdem auch bestimmt.
»Erzähle mir nichts davon«, wiederholte er.
»Wir leben im Krieg. So lange sind wir vor ihm geflohen, aber in dem Moment,
als er uns hatte, waren wir verloren. Der Krieg ist ein Ungeheuer. Er macht mit
uns allen, was er will. Nicht nur mit dir, mit mir genauso, Bernina. Ich bin
doch auch nicht mehr der Anselmo, der dir einmal das Balancieren auf einem Seil
beigebracht hat.«
Für ein paar Augenblicke schwiegen sie, dann war es Anselmo, der
zu erzählen begann.
»Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren.« Er lächelte mit
einem bitteren Zug, den er früher nicht gehabt hatte. »Ich musste für das
schuften, was ich immer am meisten verabscheut hatte – den Krieg. Gräben
ausheben, Gräber schaufeln, oft angekettet wie eine Bestie, ohne die Chance auf
Flucht. Nicht zu wissen, wie es dir und den anderen ergangen war, das hat mir
alle Kraft genommen. Ich glaubte schon, ich würde für den Rest meiner Tage in
Gefangenschaft leben müssen.«
In kurzen Worten berichtete er davon, wie es
irgendwann einem Offizier auffiel, dass er mehrere Sprachen verstand. »Die
vielen Reisen, die langen Wege, die ich früher gegangen war, machten sich
bezahlt. Zumindest ein paar Brocken verstehe ich fast von jeder Sprache. So
musste ich nicht mehr zur Schaufel greifen, sondern die Befehle des Offiziers
übersetzen. In der Armee gibt es Katalanen und Navarresen, Männer aus meiner
Heimat, aber auch Florentiner und Piemontesen, Bretonen und Wallonen, und mit
den meisten kann ich mich irgendwie verständigen.«
»Das war doch ein Glück für dich, Anselmo.«
»Einerseits ja. Ohne diesen Offizier wäre ich in Gefangenschaft vielleicht
schon verhungert. So jedenfalls ist es vielen ergangen. Andererseits war ich
immer noch ein Gefangener des Krieges. Auch wenn ich sogar Geld
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