Das Geheimnis der Krähentochter
warfen.
Unweit des Eingangsportals des Hauses, unter einem jener Bäume,
spielte sich eine schreckliche Szene ab. Sie sah Soldaten. Männer mit großen,
federgeschmückten Hüten und hohen Stiefeln, weit über zehn, schwer bewaffnet
allesamt, die meisten außerdem mit einem silbernen Bierkrug in der Hand.
Auf der Erde lag ein weiterer Mann, flach auf der Brust, die
ausgestreckten Hände und Füße waren mit Riemen an Stöcke gefesselt, die man in
den Boden gerammt hatte. Das Hemd über seinem Rücken war zerrissen, wurde immer
weiter zerfetzt von den Hieben, die der Wehrlose von einem der Soldaten mit
einer ledernen Reitgerte erhielt.
Die Soldaten betrachteten das Schauspiel mit einer gewissen
Langeweile, einer lachte kurz auf, ein paar andere sahen kaum hin und
beschäftigten sich lieber mit ihrem Getränk.
Jetzt entlockten die Schläge dem Gefesselten keine Schreie mehr,
nur noch ein schwaches Aufstöhnen – ein furchtbares, erbarmungswürdiges
Krächzen, das seiner trockenen Kehle entwich. Und mit jedem weiteren Hieb
zuckte sein Kopf nach hinten, sodass sein wunderschönes schwarzes Haar
aufwirbelte.
»Anselmo!«, rief Bernina, als sie durch das Tor in den Innenhof
des ummauerten Gebäudes trat.
Die Reitgerte stand endlich still. Verdutzt sahen die Soldaten
auf, hinüber zu der jungen Frau, die zunächst keiner von ihnen bemerkt hatte.
»Hoppla«, sagte einer von ihnen, »schaut euch mal diesen schönen
Schmetterling an, der uns da ins Haus flattert.«
Anselmos Gesicht sank erst in die mit Gras bewachsene Erde, dann
richtete er seinen Blick mit letzter Kraft auf Bernina. Seine Lippen bewegten
sich, er versuchte etwas zu sagen, doch im nächsten Moment schlossen sich seine
Augen.
Ein Moment, der alles in Bernina zu Eis gefrieren ließ. Ein
Moment, der sie an jenen Morgen erinnerte, als der Petersthal-Hof unterging.
Und genau wie damals bestand sie nur noch aus zuckenden Gefühlen,
genau wie damals entbrannte eine Wut in ihr, ein schrecklicher Zorn, der sie
handeln, jedoch nicht mehr überlegen ließ.
Sie stürmte nach vorn, und während sie damals im Schwarzwald von
der Krähenfrau gestoppt worden war, gab es hier niemanden, der sie zurückhalten
konnte. Mit der gesamten Kraft ihrer beiden Arme stieß sie den Mann mit der
Gerte weg und stürzte zu Anselmo, dessen Augen sich wieder halb öffneten und
sie zu suchen schienen. Verzweifelt begann sie, die erste seiner Fesseln zu
lösen.
Bernina war gerade fertig damit, als sie von groben Händen gepackt
und hoch auf die Beine gerissen wurde. Sie schlug um sich, sie trat um sich,
sie zerkratzte einem der beiden Fremden das Gesicht, bis sein Blut spritzte.
Doch natürlich hatte sie keine Chance. Im Nu war sie wehrlos,
festgehalten von vier starken Männerhänden.
»Die lassen wir nicht wieder gehen«, brüllte
einer der beiden.
Raues Gelächter, eine flache Hand klatschte brutal auf Berninas
Wange, noch härter die Hände, die ihre Oberarme quetschten. Dann ein Schlag mit
der Faust. Sie fühlte nicht einmal Schmerz, nur das Nahen einer Ohnmacht.
Wie in einem Nebel nahm sie wahr, dass sie hochgehoben wurde. Wehrlos,
kraftlos ließ sie es geschehen.
»Das ist nur gerecht«, drang eine harte Stimme an ihr Ohr. »Erst
sorgt der Zigeuner dafür, dass uns ein hübsches Frauenzimmer abhanden kommt.
Und dann beschert er uns ein zweites, das ihm helfen will.«
Wieder das Gelächter, wild und erbarmungslos, wieder die gleiche
Stimme: »Aber umso besser, dieses Weib hier ist doch viel hübscher, stimmt’s?
Los, bringen wir es ins Haus, um ein bisschen Spaß zu haben.«
Bernina sah den Eingang auf sich zukommen, dann einen langen dunklen,
fast fensterlosen Gang, den sie bis zu einer schweren Holztür entlanggetragen
wurde. Die Tür sprang auf, dahinter kam ein Vorhang aus weinrotem Samt zum
Vorschein.
Sie sah den schweren Stoff, aber gleichzeitig auch Anselmos Augen,
halb geöffnet, auf der Suche nach ihr, von Schmerzen verzerrt. Ihre Sinne
schwanden, die Geräusche um sie herum vermischten sich zu einem dumpfen
Brodeln, aus dem nur ein einzelner merkwürdiger Laut klarer auszumachen war.
Ein Laut, der Bernina bekannt vorkam und doch nicht zu deuten war. Ein Laut,
der sich als ein leises, scharfes Zischen entpuppte.
Es war das Zischen der Krähenfrau, so nah und
weit entfernt zugleich, es waren ihre Worte, die nun auf einmal doch ganz klar
in Berninas Kopf widerhallten: Der Weg, der zum Teufel führt.
Kapitel 3
Der Geruch von Pulver und Angst
Vielleicht
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