Das Geheimnis der Krähentochter
Schließlich erhob er sich, ohne die Augen von ihr zu
lassen. Sie jedoch sah noch immer ins Nichts, auch als er vor die Stellwand
trat und ein paar Worte mit den anderen Gauklern wechselte. Bernina hörte nicht
hin, auch das Knirschen seiner Schritte, als er kurz darauf den Schuppen
verließ, erreichte sie nicht. Die Zeit verging langsam. Noch immer fiel
Tageslicht durch das einzige Fenster. Hinter der Stellwand berieten sich einige
der Gaukler, dann verließ Eusebio den Schuppen. Bernina blieb allein zurück.
Bald darauf erschien Eusebio wieder, nicht
jedoch Anselmo.
Als die Stimmen der Gaukler lauter wurden, trat Bernina vor die
Stellwand. Sofort kehrte Stille ein.
»Was ist los?«
»Anselmo«, sagte Eusebio, der vor dem Eingang stand.
»Was ist mit ihm?«
Eusebio maß sie mit einem langen Blick. »Was habt ihr beide vorhin
besprochen?«
»Das geht nur ihn und mich etwas an«, erwiderte Bernina, die
spürte, dass sie von Rosa beobachtet wurde. »Was ist mit Anselmo?«
»Ich weiß es nicht.« Er hob kurz die Schultern. »Ich weiß nur,
dass er in Schwierigkeiten geraten ist. Offenbar hat er versucht, einer Frau
beizustehen, die von Soldaten bedrängt wurde. Es kam zu einem Streit, zu einem
handfesten Streit. Seitdem ist er verschwunden.«
Bernina erschauerte.
»Was ist zwischen euch vorgefallen?«, wollte Eusebio erneut
wissen.
»Ich muss nach ihm sehen.« Bernina sagte es mehr zu sich selbst
als zu den anderen. Sie lief los, direkt an Eusebio vorbei, der versuchte, sie
aufzuhalten.
»Bloß nicht nach draußen«, riet er mit ernster Stimme. »Das ist zu
gefährlich. Für jeden von uns, für eine Frau erst recht.«
»Ich muss Anselmo suchen.« Sie drängte weiter.
»Nicht!« warnte er sie von Neuem.
Auf einmal ertönte die Stimme Rosas: »Lass sie gehen, du Narr,
lass sie gehen. Es ist doch alles ihre Schuld. Alles!«
Bernina sah sie an. Wut und Hass leuchteten in den Augen der alten
Frau, zum ersten Mal in aller Offenheit.
»Alles ist ihre Schuld«, wiederholte Rosa.
Bernina wollte etwas antworten, doch dann schüttelte sie nur den
Kopf und schob sich endgültig an Eusebio vorbei, der nur verständnislos in die
Runde der überraschten Mienen blickte und keine Anstalten mehr machte, sie zu
stoppen.
Draußen wurde sie von einem überraschend kühlen Windzug empfangen,
der durch die Straßen strich und die Dämmerung ankündigte. Ihre Schritte wurden
schneller. Die Ruhe kam ihr noch bedrohlicher, noch unheimlicher vor. Es war
später, als sie angenommen hatte. Die Sonne hatte bereits einen ziemlich tiefen
Punkt erreicht, und zwischen den Häusern lag schon die Dunkelheit.
Bernina nahm den Weg zum Marktplatz, dem einzigen Anhaltspunkt,
den sie hatte. In ihrer Brust schien sich ein Klumpen gebildet zu haben, und
die Bilder, die sie in Rosas Stein gesehen zu haben glaubte, wirkten noch
ummittelbarer auf sie
Anselmo, formten ihre Lippen lautlos seinen Namen. Wo bist du?
Sie hatte Gewissensbisse, spürte sie unerträglich in ihrem Innern.
Wenn sie Anselmo nicht gesagt hätte, sie könne ihn nicht heiraten, hätte er
nicht einfach so den Schuppen verlassen.
Anselmo, wo bist du?
Wieder passierte sie den nach wie vor leeren Marktplatz. Sie lief
weiter, hinein in die Stille, die erst von Stimmen gebrochen wurde, als sie das
Haus mit der Mauer erreichte, dessen Dachspitze von der Ritterstatue geziert
wurde.
Bernina hielt inne, lauschte angespannt.
Gelächter – und dazwischen immer wieder ein kurzes
Aufschreien. Bernina hörte noch etwas anderes. Etwas, das wie Schläge klang.
Die Aufschreie drangen ihr durch Mark und Bein.
Verzweifelt rannte sie an der Steinmauer entlang, die zu hoch war,
um über sie hinwegsehen zu können. Und über ihr, nur ein Stück oberhalb ihres
honigfarbenen Haars, erklang das Zischen von Schwingen. Sie spähte nach oben
und entdeckte die Krähen, die sich in ihrer Richtung durch die Luft bewegten.
Als würden sie Bernina begleiten. Oder verfolgen. Unwillkürlich musste sie an
Rosas düstere Worte denken, hörte sie, wie die Alte ihr das Wort
›Krähentochter‹ entgegenschleuderte.
Sie umrundete die nächste Mauerecke, ihre Lungen brannten, und
dann erreichte sie das Tor, von dessen beiden Flügeln einer zur Hälfte offen
stand. Erneut blieb Bernina stehen.
Das geöffnete Tor gab die Sicht frei auf den Prachtbau mit dem
Ritter. Auf dem flachen Grund zwischen Haus und Mauer waren Kastanienbäume
gepflanzt worden, die in der untergehenden Sonne kreisrunde Schatten
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