Das Geheimnis der Krähentochter
knochigen Knien hatte die dünne, runzlige Frau, deren winziges Gesicht
von einem Kopftuch verschluckt zu werden drohte, eine Zinnschale mit einem nach
Kräutern duftenden Öl, ausgeblichene Tierknochen und den sehenden Stein
verteilt. Jeder der Gaukler hing mit sorgenvollen Blicken an den Augen der
Alten.
Erst nach einer Weile bemerkten sie, dass Eusebio gemeinsam mit
Anselmo und Bernina den kleinen Schuppen betreten hatte, der sich am Rande der
Stadt an eines der letzten Gebäude des Ortes presste.
Wie jetzt herauskam, gehörte sowohl das Wohnhaus als auch der
Schuppen einer Müllersfamilie, die so freundlich war, den Gauklern diesen
ungenutzten Unterschlupf zur Verfügung zu stellen. Die Familie hatte sich mit
mehreren Verwandten im Haus verschanzt.
»Ohne diese Leute«, meinte Eusebio, »würden wir vollkommen
schutzlos auf der Straße stehen.«
Eine aufgeregte Unterredung setzte ein. Schnell wurde klar, dass
sich der Gruppe keine Möglichkeit bot, sich aus der misslichen Lage zu
befreien. »Ohne Wagen, ohne Pferde haben wir keine Chance. Ohne sie sind wir
verloren«, sagte Anselmo. »So bleibt uns erst einmal nichts anderes übrig, als
abzuwarten.«
Bernina hatte zugehört, ohne selbst ein Wort zu äußern. Sie
merkte, wie sich Ratlosigkeit in dem Bretterverschlag ausbreitete und die
Menschen, die sonst so viel Fröhlichkeit versprühten, in düsteres Grübeln
verfielen.
Erneut wurde ihr schmerzlich bewusst, dass der Krieg, bislang nur
ein dunkles, schemenhaftes Gespenst, sie plötzlich mit ganzer Kraft gepackt
hielt.
»Wenn wir erst die Wagen wiederhaben«, setzte Anselmo hinzu, »dann
sieht es ganz anders aus. Und die Pferde natürlich. Ich versuche morgen zu
erfahren, wo die Tiere sind. Seht nicht zu schwarz. Wir haben doch schon andere
schwierige Situationen gemeistert.«
Hier und da antwortete man ihm mit einem Lächeln, doch das wirkte
gequält. Niemand sagte etwas. Auch Rosa nicht, die weiter in ihren Stein
blickte, als würde er Antworten auf alle Fragen liefern. Dann ruckte ihr Kopf
hoch. Ihr Blick fuhr durch das Dunkel des modrig riechenden Schuppens, der nur
durch eine winzige Fensteröffnung Tageslicht hineinließ, und traf auf Bernina.
In ihren Augen loderte ein Feuer.
Anselmo bemerkte diesen Blick, bemerkte auch, wie unangenehm er
für Bernina war, und so schob er sie sanft vor sich her, drängte sie in eine
Ecke des Schuppens, hinter eine etwa schulterhohe Stellwand aus morschen
Brettern. Damit waren sie ein wenig von den anderen getrennt.
Auf einer der letzten Decken, die die Gruppe
hatte retten können, saßen Bernina und Anselmo nebeneinander, ganz dicht,
sodass sich ihre Körper berührten und gegenseitig wärmten.
Aber die Stille wirkte weiter bedrohlich. Keiner der Gaukler
redete.
»Bernina«, hauchte Anselmo leise in Berninas Ohr, »ich verspreche
dir, ich bringe uns hier raus. Irgendwie werden wir es schaffen.«
»Davon bin ich überzeugt«, antwortete sie ebenso leise.
»Und ich verspreche dir auch: Sobald wir Ippenheim hinter uns
gelassen haben, wird Rosa uns trauen.«
Ein paar Augenblicke verstrichen.
»Ich weiß nicht«, sagte Bernina, »ob das richtig wäre.«
Der Satz stand zwischen ihnen und erst in dieser merkwürdigen Ruhe
spürte Bernina, dass sie sich entschieden hatte. Irgendwann in den letzten
Minuten war dieser Entschluss über sie gekommen, beinahe unmerklich.
»Ich kann dich nicht heiraten«, setzte sie nun hinzu, als würde
sie selbst überprüfen müssen, ob sie wirklich fähig war, diesen Satz
auszusprechen.
Doch sie konnte es. Das Bild des sterbenden Anselmo, das sie in
Rosas Stein gesehen hatte, erwies sich endgültig als zu mächtig. Es war zu
groß, zu stark, es war wie ein Abgrund, der vor Bernina die Erde schwarz und
unendlich tief aufklaffen ließ.
Langsam beugte sich Anselmo vor, um ihren Blick mit seinen blauen
Augen aufzufangen. Er war überrascht, verwundert. Nicht so wie in jenem Moment
zuvor, als die Wagen und Pferde nicht da waren, wo er sie erwartet hatte.
Sondern viel schlimmer. Er war regelrecht geschockt.
»Warum?«
Bernina sah an ihm vorbei ins Nichts des Schuppens. »Das kann ich
dir nicht sagen.« Ihre Stimme klang lahm, müde.
»Was ist bei dem Gespräch mit Rosa vorgefallen? Was hat sie dir
gesagt? Und weshalb hat sie dich eben so seltsam angesehen? So … böse?«
»Das kann ich dir nicht sagen«, wiederholte Bernina fast unhörbar.
Er stellte noch einmal die gleichen Fragen, doch auch diesmal
erhielt er keine Antwort.
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