Das Geheimnis der Krähentochter
jetzt in das Gefangenenlager platzen. Die Soldaten sind erschöpft und
gereizt, sie sind dem Tod in Ippenheim gerade noch mal von der Schippe
gesprungen, sie haben eine Heidenangst vor Arnims Armee. Wir sollten behutsam
vorgehen.«
»Behutsam? Nein, ich muss zu ihm.«
»Offenbar hat Falkenberg entschieden, dass wir aufgrund der vielen
Verletzten und der entkräfteten Pferde morgen noch den halben Tag abwarten, um
dann erst weiterzuziehen. Wenn es sich bei dem Gefangenen wirklich um Ihren
Anselmo handelt, bleibt Zeit, um etwas auszurichten.«
»Ich kann nicht warten.«
»Doch, das müssen Sie. Ich habe vorhin kurz mit dem Oberst reden
können.«
»Wird er Anselmo freilassen?«
Poppel verzog den Mund. »Das nicht unbedingt. Immerhin heißt es,
er hat einen Offizier angegriffen, da wird man in dieser Armee nicht einfach
freigelassen. Aber falls er es ist, klappt es womöglich, dass er mir zugeteilt
wird. Wenn ich freundlich und beharrlich nachfrage und um eine Hilfe für meine
Arbeit bitte.«
»Ich würde ihn so gern sehen.«
»Hoffentlich morgen.«
»Morgen ist so weit weg.«
»Überhaupt nicht. Sehen Sie, ich habe in der Nähe des Wagens ein
Offizierszelt gefunden, in dem man mir eine Schlafstelle angeboten hat. Sie
bleiben hier. Und zwar …« Seine Stimme gewann an Schärfe. »Und zwar bis
ich morgen früh wieder bei Ihnen bin. Haben Sie mich verstanden?«
Widerstrebend nickte Bernina.
»Dann also bis morgen früh.«
»Danke«, flüsterte sie, nach wie vor verzweifelt ob der
Ungewissheit, allerdings auch wieder mit Hoffnung. »Vielen, vielen Dank.«
»Eine angenehme Nacht wünsche ich.« Er lächelte schmal. »Auch wenn
Sie die nicht haben werden.«
»Vielen Dank«, wiederholte Sie noch einmal und brachte sogar
ihrerseits ein Lächeln zustande.
Natürlich behielt Melchert Poppel recht. Es wurde keine angenehme
Nacht, sondern die längste in Berninas Leben. Sie richtete es sich in der
stickigen Luft des Wagens zwischen Truhen, Taschen und Deckenbündeln
einigermaßen bequem ein, doch an Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Bilder
ihres Lebens nahmen vor ihrem inneren Auge Gestalt an. Der Bauernhof der Vogts,
umgeben von den dunklen Wäldern, die Hütte der Krähenfrau, die Gaukler-Wagen,
die unter strahlend blauem Himmel durch das Land zogen. Was für ein seltsames
Leben sie bisher gelebt hatte. Erst eines, in dem scheinbar überhaupt nichts
geschah, dann wieder eines, das sie förmlich überrollte.
Sie zog die Zeichnung hervor, die das kleine Mädchen zeigte, auch
wenn sie in der Dunkelheit nichts davon erkennen konnte. Doch mit der Zeit war
die Skizze fast zu einem Freund oder Trostbringer geworden. Sie strich über das
etwas rissig gewordene Papier und sah sofort wieder das große Gemälde vor sich,
das ihr in dem Haus in Ippenheim aufgefallen war. Was für unerklärliche Gefühle
sie beim Anblick jenes Bildes doch gepackt hatten. Ihre Gedanken ließen sie
nicht zur Ruhe kommen, kehrten auch immer wieder zurück zu Anselmo. Und zum
ersten Mal hielt sie es wirklich für einen Fehler, einer Heirat nicht
zugestimmt zu haben. Die Wirkung des Steins der Wahrheit war unermesslich groß
gewesen. Und dennoch – sie hätte sich nicht beeinflussen lassen sollen,
sondern Anselmo alles erzählen müssen, was ihr in den Bildern des sonderbaren
Steins offenbart worden war. Gemeinsam wären sie dann einer Lösung
nähergekommen. Aber jetzt war es zu spät.
In der frühen Morgendämmerung grübelte sie immer noch. Sie hörte
die Pferde, die mit einem Schnauben erwachten. Menschen, die sich räuspernd aus
ihren Decken und Zelten wühlten, um sich zu erleichtern. Die ersten Wortfetzen,
das erste leise Lachen, das Klappern von Töpfen oder Trinkgefäßen. Obwohl sie
keine Minute geschlafen hatte, fühlte sich Bernina überhaupt nicht müde. Im
Gegenteil, am liebsten wäre sie längst wieder aufgesprungen, schon beim ersten
Sonnenstrahl.
Doch sie zwang sich selbst auszuharren. Zu warten. Lange wurde
ihre Geduld glücklicherweise nicht mehr allzu sehr auf die Probe gestellt.
Schon bald schob Melchert Poppel den Stoff der Plane ein wenig zurück, um sich
ihr zu zeigen, genau wie am Abend zuvor. Er sah erholt aus, die Nachtruhe
schien ihm gutgetan zu haben.
»Dachte mir, dass Sie schon wach sind«, meinte er leise.
»Ich war nie wacher«, erwiderte sie und kletterte aus dem Wagen.
»Dann kommen Sie, Bernina.«
Nebeneinander durchquerten sie stumm das Armeelager mit schnellen
Schritten. Noch mischte sich die
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