Das Geheimnis der Krähentochter
Fähnrich aber doch eingeschritten und hatte sich verbeten, die
Gefangenen von ihrer Arbeit abzuhalten.
Poppel gab nach und führte Bernina wieder weg, die Eusebio noch
einen verzweifelten Blick zuwarf. Dann hatte sie darauf gedrängt, dass der Arzt
erst noch einmal mit dem Oberst sprechen sollte. Vielleicht würde sich ja doch
noch eine vielversprechendere Spur finden lassen, die zu Anselmo führte.
Außerdem bat Bernina eindringlich, dass Poppel zumindest für Eusebio
irgendetwas tun solle, um ihn von diesem Gefangenentrupp loszueisen. Der Arzt
versprach, alles in seiner bescheidenen Macht Stehende zu versuchen. Nachdem er
sie allein gelassen hatte, war sie mit hängendem Kopf zurück zum Wagen
gegangen, von dem sie sich seither nicht mehr fortbewegt hatte. Und erst jetzt
sah sie Poppel aus einiger Entfernung auf sich zukommen. Allein, ohne Eusebio,
dessen hasserfüllten Blick sie immer noch auf sich fühlte, dessen tonlose
Stimme sie immer noch im Ohr hatte.
Wie schnell der Krieg über sie alle hereingebrochen war, über
Bernina und Anselmo, über die ganze fröhliche, friedvolle Truppe. Der Sommer
war so schön gewesen, traumhaft schön, eine Zeit des Glücks, und er war Bernina
manchmal unendlich erschienen, als könnte nichts und niemand ihn irgendwann
beschließen. Doch er ging tatsächlich vorüber, und nun wiederum hatte sie das
Gefühl, er wäre schneller an ihr vorbeigezogen als ein flüchtiger Moment. Die
Zeit an sich schien etwas zu sein, das niemals zu fassen, niemals wirklich zu
begreifen war. Ein Tag konnte sein wie ein Jahr, aber auch wie ein
Wimpernschlag.
Und ebenso unfassbar, ebenso unbegreiflich schien Berninas ganzes
Leben geworden zu sein. Der letzte Winter auf dem Petersthal-Hof, der Frühling
mit der Krähenfrau, der Sommer mit Anselmo und den Gauklern. Und jetzt? Was
würde nun geschehen?
Würde sie Anselmo wiederfinden?
Was mochte der Herbst bringen, der sich auf einmal wie aus dem
Nichts heranschlich und die Luft mit Kühle erfüllte?
Bernina löste sich von dieser Flut aus Gedanken und schob sich vom
Bock des Wagens. Inzwischen war Melchert Poppel bei ihr angekommen, und sie war
sich nicht sicher, was der Ausdruck seines Gesichtes verhieß.
Der Feldarzt blieb stehen und stützte seine Hand auf einem Rad des
Wagens ab. Er zupfte an seinem Hut, dann begann er müde zu berichten.
»Das war natürlich ein ziemlicher Rückschlag vorhin. Auch ich
hoffte, dass wir Anselmo bei den Männern finden, die die Gräber schaufeln
mussten. Es tut mir sehr leid für Sie, Bernina.«
»Haben Sie es geschafft, mit dem Oberst zu reden?«
»Ja, Jakob von Falkenberg hat mir großzügigerweise ein paar
Minuten seiner wertvollen Zeit geschenkt«, betonte Poppel sarkastisch. »Zuerst
schien es, als würde er mir gar nicht zuhören. Was übrigens nichts
Verwunderliches bei diesem Mann ist. Er ist jemand, der den eigenen Gedanken
mehr Bedeutung beimisst als den Menschen, die um ihn herum sind.«
»Bitte«, unterbrach Bernina ihn, »sagen Sie mir, was haben Sie
erfahren?«
»Verzeihung, da bin ich doch tatsächlich schon wieder
abgeschweift. Sehen Sie es einem alten Narren wie mir nach. Also«, sammelte
Poppel sich. »Ich äußerte ein paar Worte über diesen jungen Mann namens
Eusebio, erklärte, dass ich ihn gut gebrauchen könnte.«
»Und dann?«
»Wissen Sie, normalerweise hat der Oberst genug um die Ohren, wie
man so schön sagt, normalerweise wäre er einfach meiner Bitte nachgekommen. Ich
hätte gesagt, ich brauche eine Hilfe, er hätte gesagt, dann nehmen Sie sich
jemanden. Aber …« Poppels Blick legte sich auf Bernina.
»Aber?«
»Falkenberg will Sie sehen.«
»Mich?
»Ja, Bernina. Er ist bestimmt nicht abgeneigt, unseren Wunsch zu
erfüllen, aber als ich mich nach Anselmo erkundigte und dabei Sie erwähnte,
wollte er wissen, wer Sie sind. Offenbar hat er sich daran erinnert, schon
einmal in Ippenheim mit Ihnen gesprochen zu haben.
»Ja, wir haben ein Gespräch geführt. Hatte ich Ihnen das nicht
gesagt? «
»Zumindest dass Sie ihn kennen, das hatten Sie mir erzählt.«
»Wieso will er mich sehen?«
»Ich kann mir nur einen Grund vorstellen.« Poppel zog seine
Augenbrauen kurz nach oben. »Ich sagte Ihnen ja schon, dass Sie sehr schön
sind.«
»Ich habe nichts dagegen, ihn zu treffen«, erwiderte Bernina
nüchtern. »Auch wenn ich ihn brutal und arrogant finde.«
»Falkenberg hat angedeutet, Ihnen aus einer misslichen Lage
geholfen zu haben.«
»Das hat er in der Tat«, gab
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