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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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auslösen. Aber ehrlich
gesagt, habe ich schon oft davon gehört, dass Gefangene weiterverkauft werden.
Von einer Armeeeinheit zur nächsten. Der Krieg benötigt viele Arbeiter. Für
Aufgaben, die keiner freiwillig übernehmen würde. Also werden Menschen dazu
gezwungen. Schutzgräben müssen ausgehoben, Flüsse passierbar gemacht werden.«
    »Sie denken doch nicht …«, ihre Augen weiteten sich, als sie
Melchert Poppel ansah, »… dass er gar nicht mehr bei der Armee des Obersts
ist?«
    »Ich weiß nur, dass der Krieg unberechenbar ist. Oft weht er
Menschen davon wie ein starker Wind. Wir müssen die Augen offenhalten.«
    Berninas Blick lag weiter auf ihm. »Wir?« wiederholte sie dann.
»Wäre es denn möglich, dass Sie mir helfen können, Anselmo zu finden? Dass Sie
womöglich sogar ein Wort für ihn einlegen könnten?«
    Der Arzt lachte, allerdings nicht aus Freude, sondern eher mit
traurigem Klang. »Mein Wort ist nicht so gewichtig, wie Sie sich das wünschen.«
    »Aber es wäre …«
    »Ich werde tun, was ich kann«, unterbrach er sie, ohne dabei
schroff zu werden. »Doch ich vermag leider nichts zu versprechen.«
    »Sie sind sehr, sehr nett, Herr Poppel.«
    »Früher war ich es vielleicht mal, aber das ist schon lange her.«
Nun erwiderte er ihren Blick. »Beantworten Sie zur Abwechslung mal mir eine
Frage?«
    »Aber natürlich.«
    »Wie heißen Sie? Ich kenne noch immer nicht Ihren Namen.«
    »Oh, Verzeihung, daran habe ich nicht gedacht.« Sie deutete mit
ihrem Kopf eine leichte ironische Verbeugung an, genauso wie er es bei seiner
Vorstellung getan hatte. »Nennen Sie mich einfach Bernina.«
    In der Hitze dieses langen, kraftvollen Sommers kamen die beiden
mageren, von schweren Jahren gezeichneten Pferde nur langsam voran. Mehrmals
gönnte Melchert Poppel ihnen eine Rast, um sie an einem Bach oder Tümpel zu
tränken und sie mit ein paar faulig aussehenden Karotten zu füttern.
    Es war schon später Nachmittag, als sie endlich näher an die
Streifen aus dichten Wäldern gelangten, zwischen denen sie schließlich Oberst
Jakob von Falkenbergs Armee entdeckten.
    Nach den langen eintönigen Stunden auf dem Planwagen spürte
Bernina sofort, wie Anspannung und Aufregung sich wieder in ihr ausbreiteten.
Unbewusst begann sie, auf dem Bock herumzurutschen.
    »Auch wenn es Ihnen schwerfällt«, sagte Melchert Poppel, »möchte
ich Sie bitten, Ruhe zu bewahren. Lassen Sie mich erst die Lage erkunden. Eine
Beschreibung Ihres Anselmos haben Sie mir ja gegeben. Vielleicht gelingt es
mir, den einen oder anderen Hinweis aufzuschnappen, der uns weiterhelfen
könnte.«
    »Das wäre zu schön«, war alles, was Bernina entgegnete, jede Silbe
ein leiser Laut aus Hoffnung und Ungewissheit.
    Die Wachsoldaten, die schon mehrere 100 Meter vor dem eigentlichen
Lager postiert waren, erkannten den Arzt, grüßten stumm und ließen den Wagen
passieren, nicht ohne dabei neugierige, anzügliche Blicke in Berninas Richtung
zu schicken.
    »Waren Sie schon einmal im Lager einer Armee, Bernina?«
    »Nein, noch nie.«
    Sie näherten sich diesem Gebilde, das wesentlich größer war, als
Bernina es erwartet hatte. Und schon jetzt wurde ihr klar, was Poppel mit
Bienenschwarm oder Ameisenhaufen gemeint hatte.
    Überall war Bewegung, überall erklangen Geräusche und Stimmen.
Reitende Boten kamen an, andere verließen gerade das Lager. Pferde wurden gestriegelt,
Hühner wurden geschlachtet. So viele Tiere, so viele Menschen, und nicht nur
Soldaten.
    Geduldig ließ Poppel die ermüdeten Pferde einen Weg durch dieses
zum Teil geordnete, zum Teil wilde Gewimmel finden, hindurch zwischen löchrigen
Zelten der Infanterie, Kochstellen, Marketendereien und Munitionsplätzen. Dann
ein Anblick, der Bernina das Blut in den Adern gefrieren ließ: ein großes
hölzernes Rad, an dem für alle sichtbar die Stücke eines Gevierteilten hingen.
    Bernina starrte darauf, unfähig, ihre Blicke in eine andere
Richtung zu lenken. Und so grausam dieses Bild auch war, das helle Haar dieses
bemitleidenswerten Menschen schenkte ihr doch zugleich Erleichterung: Anselmo
jedenfalls war es nicht.
    »Mein Gott«, stieß sie nur aus, in ihrem Magen ein Klumpen wie aus
Blei.
    »Vermutlich läst man den armen Kerl noch eine Weile da hängen«,
meinte Poppel leise. »Oder das, was von ihm übrig geblieben ist. Als warnendes
Beispiel für andere.«
    »Mein Gott«, hauchte sie noch einmal. »Was mag der Mann denn bloß
angestellt haben, um eine solche Bestrafung zu

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