Das Geheimnis der Krähentochter
doch ist, dachte sie. Es kam ihr vor,
als hätte er nicht eines, sondern viele Gesichter. Erneut hatte sie das Gefühl,
dass etwas an ihm ihr bekannt vorkam. Nur was? Er hatte etwas, was sowohl
abstoßend, aber in gewisser Weise vielleicht sogar anziehend war. Wie
nachdenklich und gefühlvoll er eben noch ausgesehen hatte. Obwohl Melchert
Poppel ihr gegenüber einmal so etwas erwähnt hatte: Solche Seiten hatte sie mit
Sicherheit nicht an Falkenberg erwartet.
Nun erhob der Oberst sich von der Tischkante. Er fuhr mit der Hand
kurz über die ausgebreitet daliegende Landkarte und trank noch einen Schluck
Bier. Sein Blick schweifte irgendwohin, hinaus aus diesem Zelt, weit weg, und
dann stellte er sich plötzlich mit einem einzigen raschen Schritt ganz nahe vor
Bernina.
Seine Augen auf einmal so dicht vor ihren.
Ein imposanter Mann, ein eindrucksvoller, einschüchternder Mann
mit offensichtlich grenzenlosem Selbstvertrauen. Sein Blick stark wie eine
Berührung.
Bernina hielt diesen Augen stand.
»Sie sind wirklich ausgesprochen schön, Bernina«, flüsterte
Falkenberg, der zum ersten Mal ihren Namen aussprach.
»Ich werde jetzt gehen.«
Sie wich nach hinten, doch schon wurde sie von seinen Händen festgehalten,
die sich um ihre Oberarme legten.
Sein Gesicht war noch näher an ihrem, so nah, dass sie nichts
anders mehr sah als das Grau seiner Augen.
»Nicht«, sagte sie mit plötzlich schwächerer Stimme.
Seine Lippen berührten ihre. Zuerst noch sehr sanft, fast
zurückhaltend, dann voller Leidenschaft.
*
Die Zugpferde waren angespannt, die Infanterie hatte sich
formiert, die berittenen Soldaten schwangen sich in die Sättel. Bernina saß auf
dem Wagen des Feldarztes und hielt die spröde gewordenen Lederzügel in der
Hand. Ihre Blicke suchten das sie umgebende Durcheinander ab. Doch von Melchert
Poppel war nichts zu sehen.
Graue, zerrissene Wolken zwängten sich vor die Sonne und warfen
Schatten auf die weite, zwischen dunklen Waldstücken gelegene Ebene. Windböen
prallten mit lautem Klatschen an den Planen der Versorgungswagen ab.
Obwohl Oberst Jakob von Falkenberg Bernina zugesichert hatte, dass
Eusebio dem Arzt zugeteilt würde, war der Feuerschlucker der Gaukler-Truppe
noch nicht aufgetaucht. Deshalb war Poppel losgegangen, um ihn ausfindig zu
machen. Die Spitze der Armee setzte sich bereits in Bewegung. Irgendwo dort
musste jetzt Oberst von Falkenberg sein. Befehle wurden von vorne nach hinten
weitergegeben, die Pferde wieherten.
Poppels Planwagen befand sich in einer Reihe
mit weiteren Wagen und zweirädrigen Karren, die den Zivilisten gehörten. Auch
sie trieben ihre Pferde nun an, mit Zurufen oder auch mit der Peitsche, und
kaum dass Bernina ein paar Meter zurückgelegt hatte, entdeckte sie Melchert
Poppel. Er lief die Reihe der Wagen ab, gefolgt von einem Mann in zerfetzter
Kleidung: Eusebio.
Bernina winkte ihnen zu, und gleich darauf schoben sich die beiden
Männer nach oben auf den Bock.
»Was für eine Erleichterung, dich zu sehen«, rief Bernina Eusebio
zu, aber der Feuerschlucker antwortete nicht und wich ihrem Blick aus.
Zu dritt saßen sie dann dichtgedrängt auf dem Wagenbock, Bernina
in der Mitte. Die Zügel hatte sie wie gewohnt an den Arzt weitergereicht.
Die Armee schob sich in langsamem Tempo näher an die Wälder heran
und ließ die Ebene, die als Lagerstätte gedient hatte, allmählich hinter sich.
Es hatten sich noch mehr Wolken gebildet, und die ersten Tropfen fielen. Poppel
verschwand kurz im Wageninneren, um mit einer Decke wieder aufzutauchen, die er
galant um Berninas Schultern und über ihr Haar legte. Dann übernahm er wieder
die Zügel. Bernina dankte ihm mit einem langen Blick. Nicht nur für die Decke,
für alles, was er für sie getan hatte.
So eng sie auch beieinandersaßen, ihr Schweigen trennte sie. Poppel
pfiff eine Weile mit ein paar einfachen Melodien gegen die Stille an, hörte
aber bald damit auf.
Die Armee kroch mit ihrem Tross durch das Land, weiterhin
begleitet von Wolken, aus denen Regen fiel, mal stärker, mal schwächer.
Irgendwann, nachdem er die ganze Zeit über regungslos, wortlos, scheinbar sogar
ohne zu atmen dagesessen hatte, sah Eusebio auf einmal auf.
»Bernina«, sagte er mit einer leisen, trockenen Stimme, die sich
offenbar erst wieder ans Sprechen gewöhnen musste. »Ich muss mich entschuldigen.
Dafür dass ich heute Morgen so böse auf dich reagiert habe. Und für meine
Worte.«
»Du brauchst dich für gar nichts zu
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