Das Geheimnis der Krähentochter
an Rosas bösartig keifende
Stimme war auf einmal ganz gegenwärtig, und Bernina fragte sich, ob die Alte
vielleicht sogar recht gehabt hatte. Beinahe kam es ihr nun selbst so vor, als
wären die Krähen dieselben gewesen, auf die Rosa sie damals auf dem Weg nach
Ippenheim aufmerksam gemacht hatte. Sie hätte niemandem erklären können, wie
sie auf diesen verrückten Gedanken kam, nicht einmal sich selbst. Nur eines war
ihr klar: Der Anblick von Krähen löste inzwischen etwas in ihrem Innern aus,
das ihr nicht geheuer war.
Aufgeregte Rufe lenkten sie von den Vögeln ab.
»Was ist los?«, wandte sie sich an Poppel. Bevor er auch nur mit
einer Silbe antworten konnte, ertönten Schüsse. Nicht in direkter Nähe, sondern
irgendwo weiter vorne, offenbar an der Spitze des Zuges. Gleich darauf weitere
Schüsse, eine riesige Welle aus Lärm.
Bernina wechselte einen Blick mit dem Arzt. Kurz sah es so aus,
als wollte er etwas äußern, doch schon der Ausdruck seiner Augen sagte genug.
Der sich eben noch stur vorwärtsschiebende lange Wurm, den die
Armee bildete, verwandelte sich plötzlich in einziges großes Durcheinander.
Angetrieben von gebrüllten Befehlen ihrer Offiziere, versuchten
Kavallerieeinheiten, die Flanken zu schützen. Nach den ersten Salven wurde
längst unkontrolliert aufeinander geschossen. Der Lärm nahm zu, wurde zu dem
tiefen, pausenlosen Krachen, das Bernina bereits in Ippenheim erlebt hatte. Von
beiden Seiten schoben sich Einheiten fremder Soldaten auf Oberst von
Falkenbergs schwerfälligen Armeezug zu.
Arnim von der Tauber hatte sie eingeholt. Doch noch.
Trotz der Erwartung, dass etwas Unvorhergesehenes passieren könne,
schwappten Überraschung und Panik durch die Reihen des Zuges. Vor allem bei den
Zivilisten, die versuchten, sich und ihre Wagen und Karren in Sicherheit zu
bringen, ohne zu wissen, wo es diese Sicherheit geben könnte. Viele standen
aufrecht auf ihren Böcken und trieben ihre Zugtiere mit Peitschenschlägen an,
um irgendwie in Richtung der Wälder zu gelangen. Aber wo man hinsah –
überall feindliche Reiter und Fußsoldaten. Auch Melchert Poppel stand
mittlerweile auf seinem Bock, die Zügel fest in beiden Händen haltend. Im
Gegensatz zu vielen anderen zwang er seine Pferde allerdings in Richtung der
Spitze des Zuges.
Bei einem raschen Seitenblick auf Bernina und Eusebio rief er
gegen das Tosen an, das um sie herum herrschte: »Entweder ihr springt ab und
versucht mit den anderen zu fliehen, oder ihr versteckt euch unter der Plane.
Aber ich werde dort vorne gebraucht.«
»Ich bleibe bei Ihnen«, antwortete Bernina mit einer klaren und so
rasch gefassten Entschlossenheit, dass sie selbst überrascht war.
Eusebio presste die Lippen hart aufeinander, doch auch er blieb,
wo er war. Der Planwagen des Arztes hatte die weite Ebene bald durchquert und
schob sich hinein in das, was wie das Ende der Welt wirkte. Durchgehende
Pferde, von deren Reitern nur noch Blutflecken am Sattel übrig geblieben waren,
Soldaten, die aufeinander einschlugen, gegeneinander fochten, tote Männer, tote
Pferde.
»Eine hellblaue Fahne!«, schrie Melchert Poppel auf einmal.
»Haltet Ausschau nach einer hellblauen Flagge mit einem schwarzen Falken
darauf.«
Berninas verwirrte Blicke jagten über die sich wie ein seltsames
Tier auf der Erde windende Schlacht hinweg.
»Das ist das Wappen des Obersts«, setzte der Arzt hinzu. »Die
Flagge ist wichtig. In ihrer Nähe werden wir unseren Wagen positionieren.
Falkenbergs Soldaten wissen, dass sie mich in der Not immer dort finden
können.«
»Da ist die Flagge«, ertönte zitternd die Stimme Eusebios. Am
Rande der ersten Bäume, mit etwas Abstand zu den gnadenlosen Kämpfern, brachte
Poppel die Pferde zum Stehen. Er band sie schnell und doch mit Sorgfalt an
einem besonders starken Ast fest.
Kaum war er fertig damit, tauchten schon die ersten verletzten
Soldaten des Obersts bei ihm auf – manche auf den eigenen Beinen, andere
wurden von Kameraden gestützt oder getragen.
»Hier hinlegen«, wies Poppel die Männer an, »dicht neben den
Wagen, das ist der einzige Schutz, den ihr vorerst haben werdet.«
Bernina ließ sich vom Bock gleiten. In ihren Ohren tobte der Lärm
der Schlacht, in ihr war alles eiskalt, ihr Mund trocken, als hätte sie Sand
geschluckt.
Für Eusebio hatte sie keinen Blick mehr übrig. Sie starrte auf
Poppel, der an ihr vorbeihastete und verschiedene Sachen aus dem Wagen holte.
Er warf ihr ein Bündel mit mehreren zusammengelegten
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