Das Geheimnis der Krähentochter
entschuldigen. Wir machen alle
schwere Zeiten durch.«
»Ja.« Eusebio saugte hörbar Luft ein und sprach weiter, immer
noch, ohne sie anzublicken, das kantige Kinn fast bis auf seine Brust gedrückt.
»Nachdem erst Anselmo weg war, in dieser Stadt, in Ippenheim, und dann auch du
aus der Scheune fortgegangen bist, um nach ihm zu suchen, hat Rosa zu uns allen
gesprochen. Sie hat gesagt, dass du Unglück bringst. Dass alles, was kam, deine
Schuld sei.«
Bernina nickte traurig. »Das hat sie mir auch gesagt.«
»Sie erklärte uns, dass Krähen dir folgen und dass die Krähen ein
böses Zeichen seien. Dass sie für den Tod stünden. Und sie erzählte, dass sie
in ihrem Stein der Wahrheit grauenhafte Dinge gesehen habe, die mit dir
zusammenhingen.« Erneut holte Eusebio tief Luft. »Du weißt, wie viel uns allen
Rosa bedeutet hat. Sie war eine Seherin. Sie nahm Dinge wahr, die uns
gewöhnlichen Menschen entgehen. Wir alle glaubten an ihre Vorhersagen, wir alle
befolgten das, was sie uns riet.«
»Warum sprichst du in der Vergangenheit von ihr?«, fragte
Bernina – und wusste im selben Augenblick die Antwort. »Ist sie …?
Ist sie …?«
Eusebio sah sie an, zum ersten Mal seit der Begegnung bei den
Gräbern, und auch nur kurz. »Ja, Rosa ist tot. Kanonenkugeln schlugen ein,
dieser Schuppen, in dem wir uns versteckten, stand plötzlich in Flammen, fiel
in sich zusammen. Soldaten waren auf den Straßen und schossen auf alles, was sich
bewegte. Nicht nur Rosa ist tot. Auch Adam. Und bestimmt auch andere von uns.
Wir verloren uns, jeder rannte für sich um sein eigenes kleines Leben. Es war
schrecklich.« Er räusperte sich. »Ich weiß nicht, was mit ihnen passierte.
Irgendwann geriet ich in Gefangenschaft. Zuerst war mir nicht einmal klar, ob
es sich um kaiserliche oder fremde Soldaten handelte, die mir eine Degenspitze
an die Kehle streckten. Alles, was ich dachte, war: Jetzt bist du tot.«
Bernina fühlte, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten. »Das ist
furchtbar. Es tut mir sehr leid. Um alle, um Adam, auch um Rosa, das musst du
mir glauben.«
»Ich glaube dir. Ich weiß, dass du ein guter
Mensch bist. Aber es war so einfach, Rosas Worten zu vertrauen und unser
Unglück auf dich zu schieben. Mittlerweile aber bin ich unsicher. Ich habe viel
Schlimmes gesehen, seit wir Ippenheim erreichten …« Er hob die Schultern.
»Ich denke nicht mehr, dass es mit dir zu tun hat. Es war der Krieg. Er hat
unsere Gemeinschaft zerstört. «
Bernina suchte seinen Blick, doch seine dunklen Augen sahen
einfach nur in die Ferne. »Rosa hat mich von Anfang an nicht gemocht«, meinte
sie. »Weißt du, warum? Lag es allein an mir? Oder eher an dem, was sie zu sehen
glaubte?«
»Das ist schwer zu sagen. Sie vertraute auf das, was sie fühlte.
Selbstverständlich tat sie das. Und etwas an dir hat gewiss Angst in ihr
ausgelöst. Aber andererseits waren wir eine kleine verschworene Einheit, die
schon lange zusammen reiste, in die schon lange kein Fremder mehr eindringen
konnte. Rosa war dagegen, dass wir dich mitnehmen. Aber Anselmo hat sich
durchgesetzt. Sie konnte ihm keinen Wunsch abschlagen, er war immer ihr
Liebling gewesen.«
Sie wechselten einen raschen verhaltenen Blick, und Eusebio fügte
hinzu: »Weißt du, Bernina, sie hätte gegen jeden Fremden etwas gehabt. Sie
wollte keine Einflüsse von außen. Es lag nicht an dir. Und im Übrigen glaube
ich, dass sie sogar eifersüchtig auf dich war.«
»Aber sie war doch eine sehr alte Frau. Außerdem konnte sie nicht
erwarten, dass Anselmo sein Leben lang allein bleiben würde.«
»Das hat sie wohl auch nicht. Aber zu sehen, wie sehr er in dich
verliebt war …«
»Verliebt ist «, betonte Bernina.
»Ja, natürlich. Aber Eifersucht war trotzdem im Spiel, auf
irgendeine verrückte Weise, da bin ich sicher. Wie bei einer Mutter, die ihre
Schwiegertochter hasst. Na ja, wer kann schon in einen anderen Menschen
hineinblicken?«
Und dann, nach einer längeren Pause, bekräftigte Eusebio noch
einmal, als müsse er sich selbst überzeugen: »Bernina, ich glaube wirklich
nicht, dass du Schuld daran hast, was mit uns geschehen ist. Und ich danke dir
und Herrn Poppel, dass ich mit eurer Hilfe hier sein kann und nicht mehr bei
den übrigen Gefangenen bin. Du ahnst nicht, wie schlecht ich behandelt wurde.«
Der Arzt nickte ihm kurz zu, sagte aber nichts und kümmerte sich weiterhin
allein darum, dass seine beiden Pferde dem Planwagen vor ihnen folgten.
»Das ist Ehrensache,
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