Das Geheimnis der Krähentochter
tropfte. Schon wieder erklang seine Stimme ganz nahe bei Bernina,
und erst nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass er nicht in ihrer Erinnerung
sprach – sondern genau neben dem Bock des Wagens stand.
Überrascht blickte sie auf.
Der Arzt lächelte sanft. Und unendlich müde. Viel müder, als sie
ihn je gesehen hatte.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, wiederholte er leise den Satz,
mit dem er sie aus der Tiefe ihrer Gedanken geholt hatte.
»Das haben Sie nicht.« Sie rückte ein Stück zur Seite, damit auch
er auf dem Bock Platz nehmen konnte. Mit einem kurzen Ächzen schob er sich
hinauf, um dann seine Tasche unter der Plane zu verstauen.
»Wo steckt unser Freund Eusebio?«
»Ich habe ihn seit Langem nicht gesehen – ich sorge mich um
ihn. Es könnte ihm etwas passiert sein. Was denken Sie?«
»Durchaus möglich.« Poppel hob die Schultern und ließ sie schwer
fallen. »Möglich aber auch, dass seine Nerven ihm einen Streich gespielt haben
und er einfach auf und davon ist.«
Bernina erwiderte erst nichts darauf. Dann meinte sie: »Selbst
wenn es so gewesen ist – wer könnte es ihm verdenken?«
»Ich jedenfalls nicht.« Der Arzt lachte ohne Freude. »Ich habe für
jeden das größte Verständnis, der in dieser Hölle Fersengeld gibt, das können
Sie mir glauben, meine Liebe.«
Auf einmal legte er seinen Arm um ihre Schultern, um ihr einen
sanften, geradezu schüchternen Kuss auf die Wange zu geben – eine
Berührung, die fast keine war. Sprachlos sah Bernina ihm in die übermüdeten
Augen.
»Verzeihen Sie mir«, sagte er, »und denken
Sie um Himmels willen nicht, dass diese Geste anders als nur väterlich gemeint
war.«
Sie musste lächeln. »Ich denke gewiss nichts anderes.«
Melchert Poppel sah gerade aus. »Heute war ich wirklich stolz auf
Sie, wie ein Vater auf seine Tochter. Und hätte Ihr alter Herr Sie in den
letzten Stunden erlebt, hätte er Sie mit Sicherheit auch in den Arm nehmen und
Ihnen einen Kuss geben müssen.«
»Leider habe ich meinen Vater niemals kennengelernt. Aber wenn ich
ihn mir aussuchen dürfte, wäre er Ihnen sehr ähnlich.«
Poppels Kinn deutete eine knappe Verbeugung an. »Vielen Dank, das
ist das größte Kompliment, das Sie mir machen konnten. Und dennoch verblasst es
im Vergleich zu all den Komplimenten, die Sie verdienen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wissen Sie noch, als ich Ihnen sagte, dass man eine Dame von
innen heraus ist? Ich habe meine Meinung keinesfalls geändert: Genau das trifft
auf Sie zu. Aber dass Sie darüber hinaus in der Lage sind, auch noch derart
zuzupacken wie an diesem Tage, in einer Situation wie dieser … Sie sind in
der Tat eine außergewöhnliche Frau, wissen Sie das eigentlich?«
»Ich habe nur geholfen.«
»Nur geholfen«, wiederholte Poppel. »Bescheidener hätte man das,
was Sie vollbracht haben, wohl kaum ausdrücken können.«
Mit kurzem Zügelschlag brachte er die Pferde dazu, sich aus ihrer
Starre und Müdigkeit zu lösen. Langsam, aber dann doch stetig zogen sie den
Wagen.
»Wohin wollen Sie?«, fragte Bernina verdutzt. »Dort hinten liegen
noch etliche Verletzte, um die wir uns kümmern müssen. Wir können sie doch
nicht einfach …«
»In diesem Falle können wir das«, unterbrach Poppel sie sanft.
»Ich habe ihnen schon Bescheid gegeben. Gleich morgen früh werden sich ein paar
Helfer um sie kümmern. Mir war es vor allem wichtig, die Amputationen
vorzunehmen. Der Rest liegt ohnehin in Gottes Hand. Ich jedenfalls werde jetzt
an anderer Stelle gebraucht. Angeblich an wichtigerer Stelle.«
»Soll ich nicht bei den Verletzten bleiben?«
»Das ist nicht die schlechteste Idee. Andererseits ist mir nicht
wohl zumute, wenn Sie irgendwo schutzlos unterwegs sind. Sind Sie dagegen in
meiner Nähe, kann ich wenigstens ein Auge auf Sie haben.«
»Also möchten Sie, dass ich mitfahre«, schloss Bernina.
»Wenn Sie mir erlauben, habe ich diese Entscheidung für Sie
getroffen. Hier, bei mir auf dem Wagen, sind Sie eher in Sicherheit als sonst
irgendwo. Und wenn ich ehrlich sein darf: Außerdem habe ich festgestellt, wie
hilfreich es für mich sein kann, Sie an meiner Seite zu wissen. Falls Sie also
einverstanden sind – ich würde mich freuen, wenn Sie mich noch eine Weile
begleiteten.«
»Aber was ist mit Anselmo? Ich muss ihn finden.« In ihren Augen
blitzte etwas auf. »Und ich habe nicht vor aufzugeben.«
»Das ist mir klar. Im Moment jedoch sehe ich keine Möglichkeit,
irgendetwas über seinen Verbleib zu
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