Das Geheimnis der Krähentochter
erfahren. Erst einmal mit der Suche
innezuhalten und auf eine neue Chance zu warten, heißt nicht, dass wir
aufgeben. Na, was meinen Sie?«
Bedächtig nickte Bernina. »Gut, ich werde Sie begleiten.«
Erfreut lachte der Arzt auf. »Obwohl Sie wissen, was es bedeuten
kann, mit dem alten Poppel unterwegs zu sein? Und was da alles auf einen
zukommen kann?«
»Ja, obwohl ich all das weiß.«
Er lenkte die Pferde zwischen einigen Einheiten von Falkenbergs
Armee hindurch, die sich nach kurzem Schlaf für den neuen Morgen bereit machte.
Niemand wusste, ob Arnim von der Tauber erneut einen Angriff wagen würde oder
ob das Einschreiten der Armee General von Korths ihm zumindest vorerst einmal
etwas Respekt eingeflößt hatte. Die Ungewissheit, was die nächsten Stunden
bringen mochten, war überall spürbar, in jedem Gesicht der gerade erwachten
Soldaten trotz der Dunkelheit deutlich sichtbar.
Der Planwagen des Feldarztes wand sich zwischen Menschen, Bäumen
und Sträuchern hindurch. Noch immer prangte die farblose Sichel am
sternenlosen, von Wolken verhangenen Himmel, der sich im Osten allmählich
heller färbte. Nebel kam auf, der dicht über der Erde schwebte und einen
frischen Schub frühherbstlicher Kälte mitbrachte.
Mittlerweile waren kaum noch Soldaten zu sehen, auch keine
Zivilisten mehr. Der Arzt und Bernina hatten das Lager schon ein gutes Stück
hinter sich gelassen und folgten den schmalen Schneisen, die ihnen die Bäume
boten.
»Und Sie können mir nicht sagen, wo genau Sie gebraucht werden?
Und von wem?«, suchte Bernina schließlich wieder das Gespräch.
»Alles höchst geheim.«
»Mir können Sie vertrauen«, entgegnete Bernina offen.
»Oh, keine Frage. Nur weiß ich selbst noch nicht genau, was man
sich an höherer Stelle für mich ausgedacht hat. Sehen Sie mir also bitte meine
Geheimniskrämerei nach.«
»Ihnen würde ich alles nachsehen.« Bernina lächelte ihn an.
»Allein schon weil ich jetzt wirklich müde bin. Vorhin war ich zwar wie
erschlagen, aber ich hatte dennoch das Gefühl, ich könnte niemals wieder ein
Auge zutun.«
»Legen Sie sich doch ein wenig hinten in den Wagen. Wickeln Sie
sich in die Decken und schlafen Sie.«
»Offen gestanden, Sie selbst könnten auch etwas Schlaf vertragen.
Man sieht es Ihnen an.«
»Ich weiß. Aber das geht jetzt leider nicht.« Poppel nickte.
»Bitte, tun Sie mir den Gefallen und schlafen Sie. Es wird Ihnen guttun.«
»Wie Sie meinen«, gab Bernina sich geschlagen. Sie verschwand
unter der Plane, suchte nach Decken, und schon während sie sich unbequem
zwischen allerlei Gerümpel auszustrecken versuchte, spürte sie, wie der Schlaf
sie überwältigte, einhüllte, weit fortzutragen schien. Als sie zum ersten Mal
die Augen wieder aufschlug, fragte sie sich, wo sie überhaupt war. Dann
erkannte sie den Stoff der Plane. Sie stützte sich auf ihre Ellbogen und war
endgültig wach.
»Guten Morgen«, rief sie nach vorn.
»Einen wunderschönen guten Morgen, junge Dame«, kam die Antwort
von Melchert Poppel. »Die Sonne freut sich schon darauf, Sie begrüßen zu
dürfen.«
Für Bernina kam es einem Wunder gleich, wie unermüdlich dieser
Arzt war, mit welcher Zähigkeit er jeden neuen Tag anging. Unverändert saß er
auf seinem Bock, die Zügel in der Hand, die Augen rot, die Wangen bleich, aber
er hatte wieder einmal dem Schlaf und der Erschöpfung getrotzt.
Als sie neben ihm Platz nahm, zwinkerte er ihr grinsend zu.
Die Gegend, durch die sie kamen, floss in sanften Wellen dahin.
Waldstücke und weite Flächen wilden Grases gaben den Blick bis zum Horizont
frei. Es war ein Morgen mit blauem Himmel, nicht mehr ganz so kalt wie am
Vortag, doch der Sommer war vorbei, die Luft roch nach Herbst. An einem munter
plätschernden Bach legten sie eine Rast ein. Poppel zauberte aus einer seiner
Taschen ein paar Stücke hart gewordenes Brot, getrocknetes Obst und sogar
einige Streifen geräuchertes Fleisch. Auf einer ausgebreiteten Decke saßen sie,
bedächtig essend, die Ruhe des Morgens in sich aufnehmend.
Die Eindrücke des gestrigen Tages waren Bernina noch immer
gegenwärtig. Ein Gesicht mit grauen Augen tauchte in ihren Gedanken auf,
umrahmt von blondem Haar. Abermals war diese eine Nachricht in ihr, hielt sie
so fest, wie sie am Abend zuvor die ganze Armee festgehalten hatte.
»Sie sehen wieder einmal sehr hübsch aus«, suchte Poppel ihre
Aufmerksamkeit, »gerade jetzt, wo Sie gestärkt sind. Wenn Sie mir die Bemerkung
erlauben.«
Sie lächelte kurz,
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