Das Geheimnis der Krähentochter
Decken zu und sie fing es
auf – und für einen verschwindend kurzen Moment erinnerte sie sich daran,
wie Anselmo ihr einst einen Apfel zugeworfen hatte.
Sofort allerdings war Bernina wieder in der
Gegenwart, einer unglaublich schrecklichen Gegenwart. Sie fühlte den Stoff der
Decken unter ihren Fingerkuppen, und auf einmal reagierte sie nur noch. Ohne zu
überlegen, ohne sich selbst oder Poppel Fragen zu stellen, sie bestand bloß
noch aus Instinkten – und sie handelte.
Ebenso rasch wie geschickt breitete sie die Decken aus, ohne Scheu
ergriff sie die Schultern der fremden, vor Schmerzen aufstöhnenden Männer. So
behutsam es ging, zog Bernina die Körper auf die Decken. Ohne Unterlass tat
sie, was sie konnte. Jacken faltete sie zusammen und schob die Bündel unter die
Köpfe der Verwundeten. Sie legte die Verletzungen frei und versuchte dabei,
nicht allzu viel von dem Blut und dem manchmal regelrecht zerfetzten Fleisch
wahrzunehmen. Denjenigen, die am Fuß oder am Bein verwundet waren, zog sie die
Stiefel aus.
Poppel reichte ihr mit Wasser gefüllte Lederbeutel, wiederum ohne
eine Anweisung, ohne ein einziges Wort. Was auch nicht nötig war. Weiterhin
vollkommen aus Instinkt bestehend, auf ihr Gespür vertrauend, kümmerte Bernina
sich um die Verletzten, von denen sich immer mehr um Poppels Planwagen
versammelten. Sie reinigte Wunden, gab den Männern zu trinken, riss Stoffe in
Streifen für Verbände oder Armschlingen.
Ihre Blicke hetzten die ganze Zeit über von hier nach da, suchten
ein schweißverschmiertes Gesicht nach dem anderen ab. Die Sorge, die seltsamen
Wege des Krieges hätten Anselmo mitten in dieses Chaos führen können, war
übermächtig. So lange hatte sie es herbeigesehnt, er wäre in ihrer Nähe –
nun hoffte sie inständig, er möge weit entfernt sein. Und während sie
unermüdlich weiter Wunden auswusch und Verbände anlegte, spähte sie in das
Kampfgetümmel, wieder und wieder, wie von fremden Mächten gelenkt.
Schließlich wurde es Bernina klar, dass sie nicht nur nach Anselmo
Ausschau hielt. Auch der Oberst war es, an den sie dachte, von dem sie sich
fragte, wo er sich befand, ob er gerade voller Verzweiflung um sein Leben
kämpfte, ja ob er überhaupt noch am Leben war.
Es verwunderte sie, dass ihre Gedanken um Falkenberg kreisten, vor
allem in einer Situation wie dieser. Was war an diesem Mann, das sie so sehr
beschäftigte? Neuerliche Kanoneneinschläge, dieser immer gleiche Kriegslärm,
die Stimmen der kämpfenden Männer: Schmerzensschreie und verrückt klingende
Rufe, mit denen man sich selbst Mut und dem Gegner Angst machen wollte. Noch
mehr Verletzte, die sich in die Nähe des Feldarztes schleppten. Bernina fühlte
ihren Herzschlag rasen, ihr Kopf tat weh, schien zu vibrieren. Sie achtete
jedoch nicht darauf, sie machte weiter, immer weiter und weiter.
Und dann geschah es. Als sie es schon aufgegeben hatte, ihn
irgendwie, irgendwo ausmachen zu können, entdeckte sie ihn. Ziemlich weit
entfernt von ihr, dort wo das Kampfgeschehen besonders wild tobte. Vorneweg
ritt er, auf einem Apfelschimmel, eine seiner Kavallerieeinheiten dichtauf
hinter ihm. Er trug keine Schusswaffe bei sich, jedenfalls sah Bernina keine.
Nur den Degen schwang er, als er in die Reihen des Feindes hineinstach. Die
schlanke Gestalt auf dem edlen, hochbeinigen Pferd tauchte auf und wieder ab.
Es war, als würde sie etwas beobachten, das auf wildem Wasser trieb. Da war
wieder sein Arm, der mit dem Degen zustieß und zuschlug. Falkenberg kämpfte mit
einer Wildheit und einer Verwegenheit, die Bernina überraschten, die sie sogar
innehalten ließen. Sie konnte einfach nicht anders: Einige Momente lang, die
wie in einem wirren Traum an ihr vorüberzogen, verfolgte ihr Blick den Reiter,
der seinen großen Hut verloren hatte, sodass sich sein helles Haar besonders
deutlich aus dem Durcheinander um ihn herum hervorhob. Was für ein Anblick:
Jakob von Falkenberg kämpfte wie jemand, der die ganze Welt herausforderte.
Oder wie jemand, der den Tod geradezu herbeisehnte.
Plötzlich war da eine Hand, die ihren Arm ergriff. Poppels vor
Anstrengung rot geränderte Augen starrten sie an. »Bernina«, brachte er atemlos
hervor, »ich brauche Ihre Hilfe. Da hinten sind zwei Soldaten, die es besonders
heftig erwischt hat. Ziehen Sie sie mit mir hinter den Wagen. Ihre Beine sind
verletzt. Sie können keinen Schritt mehr gehen.«
Noch einmal warf sie einen Blick in Falkenbergs Richtung, ohne ihn
jedoch zu entdecken.
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