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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Sie wandte sich ab, um rasch dem Arzt zu folgen.
    Zu zweit gelang es ihnen, den beiden Schwerverwundeten hinter den
Planwagen zu helfen. Bernina sah auf die von Degenhieben oder Kugeln zerfetzten
Beine der Soldaten. Ihr Magen geriet in Aufruhr, aber jetzt zwang sie sich
dazu, nicht mehr wegzublicken.
    Und wie schon zuvor ging beinahe alles wie von selbst. Ungeachtet
all der Schrecken, die sich vor ihren Augen abspielten, tat sie, was getan
werden musste. Erzwungen von der Unmittelbarkeit der Situation, gelangen ihr
Dinge, die sie sich niemals zugetraut hätte. Sie schiente einen Arm, dessen
Knochen von einer Kugel am Gelenk gebrochen war, kühlte Brandwunden, entfernte
Splitter aus einer Schusswunde. Und, was für die Verletzten ebenso wichtig war,
sie sprach Trost zu, hatte für jeden der blutenden, geschockten Soldaten ein
gutes Wort übrig, und ihr entging nicht, dass viele Augen dankbar zu ihr
aufsahen. Auch Melchert Poppels Blicke huschten hin und wieder zu ihr herüber.
Offenbar zuerst mit großem Erstaunen, dann mit einer Anerkennung, die wiederum
Bernina Trost spendete. Und den stillen Zuspruch, weiterzumachen und nicht
aufzugeben, während sich um sie beide und die Verwundeten herum das Geschehen
der Schlacht unvermindert fortsetzte, als würde niemals wieder Ruhe einkehren.
    Auf einmal durchfuhr eine Nachricht diesen lauten, riesigen Wirbel
aus Blut und Tod, eine Nachricht, die ihren Weg durch die gesamte Armee von
Oberst Jakob von Falkenberg nahm, wie ein Funke, der immer neue Funken
erzeugte. Sie erreichte auch Bernina, die aufblickte, ohne ein Wort zu äußern,
die diesen Moment eiskalt in sich fühlte. Diesen Moment, der die Zeit
stillstehen ließ.
     
    *
     
    Die Nacht senkte sich herab. Sie kam wie zuvor die Ruhe nach der Schlacht,
ganz plötzlich. Wolkenfelder versperrten den Blick auf die Sterne. Allein der
Halbmond, eigenartig schief in seiner unendlichen Entfernung hängend, warf
einen Schleier aus schwachem Licht.
    Das inzwischen längst stille Schlachtfeld,
auf dem die Gefallenen lagen wie zu groß geratene, weggeworfene Puppen, schien
in einer eigenen einsamen Welt zu existieren. Über den Leichen klebten Schwärme
summender Insekten. Immer mehr Krähen lösten sich aus dem finsteren
Hintergrund, um in verwesendem Fleisch zu picken. In gewissen Abständen erklang
das gespenstische Geheul der Wölfe, die die Überlebenden witterten und noch zu
scheu und vorsichtig waren, um sich den Toten zu nähern.
    Nur abseits der Ebenen, versteckt zwischen den Bäumen, gab es
Unruhe und Bewegung. Waffen und Ausrüstung wurden repariert, erschöpfte,
verletzte Pferde versorgt oder behandelt. Erste Mahlzeiten wurden vorbereitet,
doch Feuer zu entfachen, getraute sich noch niemand. Obwohl weitere
Kampfhandlungen zunächst nicht erwartet wurden. Beide Armeen hatten noch genug
von der Schlacht, die erwartet und unerwartet zugleich ihren Anfang genommen
hatte. Einer Schlacht, die gewaltig gewesen, die eigentlich schon entschieden
war – Oberst Jakob von Falkenbergs Einheiten waren am Ende.
    Arnim von der Tauber war drauf und dran gewesen, seinem langen,
großen Siegeszug die Krone aufzusetzen und einen der bekanntesten und besonders
gefürchteten Befehlshaber der kaiserlichen Truppen vernichtend zu schlagen.
    Doch genau da war die Rettung aus dem Norden gekommen. Als sie am
dringendsten benötigt wurde, tauchte die Armee Benedikt von Korths auf,
beschienen von der untergehenden Sonne, der es zum ersten Mal seit Stunden
gelang, das Grau des Himmels zu durchbrechen. General Korths Gefolge brachte
die Angriffe zum Stillstand, und noch bevor es endgültig dunkel geworden war,
ließen die feindlichen Armeen voneinander ab, um in den Waldstücken Schutz zu
finden: für die einen kurz vor dem Sieg, für die anderen kurz vor dem Ende. Die
letzten Schüsse peitschten, dann war sie da, diese Ruhe, die nach dem großen
Tosen unnatürlich und fremd wirkte, wie etwas, das man nie zuvor erlebt hatte.
    Erneut waren irgendwo in der Undurchdringlichkeit der Nacht Wölfe
zu hören. Das Geräusch, hoch und lang gezogen, schob sich durch die kühle Luft.
Bernina lauschte, wie das Heulen verklang, um kurz darauf wieder einzusetzen,
diesmal offenbar ein Stück näher an der Stelle, wo sie auf der Erde im Gras
saß, den Rücken an eines der Räder von Poppels Wagen gelehnt. Der Feldarzt
hatte schon vor einiger Zeit seine wichtigsten Utensilien in eine abgewetzte
Tasche gepackt und war, begleitet von zwei Unteroffizieren,

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