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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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die
schönste Frau der Welt?«
    »Herr Oberst«, hörte Bernina ihre eigene Stimme – auch die
Unsicherheit darin. »Sie sollten sich wieder hinlegen.«
    Schmaler wirkte er, als wenn er all seine Straffheit verloren
hätte. Sein Lachen allerdings schien unauslöschlich zu sein.
    »Hinlegen? Oh ja, meinen ersten Ausflug aus diesem verdammten Bett
hätte ich mir leichter vorgestellt. Aber was ich jetzt vor mir sehe,
entschädigt mich in jedem Fall für die Anstrengung.«
    »Bitte, gehen Sie zurück in das Zimmer, ich kann Herrn Poppel für
Sie holen.«
    Er machte einen wackligen Schritt. »Ich versichere Ihnen, Sie sind
mir lieber als der gute alte Knochenschneider.«
    »Ohne den guten alten Knochenscheider«, bemerkte sie trocken,
»wären Sie jetzt tot.«
    Noch ein zittriger Schritt. »Ich glaube eher, dass Sie es waren,
die mich gerettet hat. Einem Engel gleich«, fügte er hinzu, »haben Sie über
mich gewacht.«
    »Sie sollten keine Scherze darüber machen.«
    Seine Augen blitzten voller Ironie. »Aber das war kein Scherz,
glauben Sie mir.«
    Falkenberg grinste weiterhin, als er sie beinahe erreicht hatte.
Doch plötzlich sank er in die Knie. »Stützen Sie mich«, bat er mit auf einmal
veränderter Stimme.
    Bernina hastete zu ihm, ließ den Arm mit der gesunden Hand
bereitwillig über ihre Schultern gleiten und sorgte dafür, dass der Oberst auf
den Beinen blieb. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem, und jetzt durchschaute
sie, dass sein Torkeln vorgetäuscht gewesen war. Sie erkannte es an der Art,
wie er ihr tief in die Augen sah, doch – zu spät.
    Seine Lippen lagen bereits auf ihrem Mund, wie schon einmal,
allerdings nicht so fordernd wie damals, sondern viel zärtlicher, und allein
der Gedanke an seine schweren Verletzungen bewahrte sie davor, ihn mit aller
Kraft von sich zu stoßen.
    Erst das Scharren von Sohlen ließ sie beide aufblicken. Am Kopf
der Treppe, auf der obersten Stufe, stand Melchert Poppel, in der Hand einen
Halter mit Kerze. Seine Nase schimmerte rot vom Wein, in seinen Augen
allerdings lag Nüchternheit.
    Sein Erscheinen brachte Bernina dazu, sich endlich von Falkenberg
zu lösen.
    »Herr Poppel«, stammelte sie und ärgerte sich über ihre unsichere
Stimme.
    »Knochenschneider, Sie stören«, ließ sich Falkenberg vernehmen,
der sich mit seiner unversehrten rechten Hand an der Wand abstützte.
    »Ich geleite Sie zu Ihrem Bett, Herr Oberst«, antwortete Poppel
und schob sich an Bernina vorbei auf Falkenberg zu, wobei er ihr den
Kerzenhalter in die Hand drückte, ohne sie anzusehen.
    »Mir wäre es lieber, das würde mein Engel erledigen«, lächelte der
Oberst, doch er ließ sich widerstandslos und nun doch sichtlich entkräftet von
Poppels Armen auffangen.
    Bernina sah ihnen nach, wie sie in dem Zimmer verschwanden. Als
sich die Tür schloss, atmete sie durch. »Mein Gott«, flüsterte sie. Alles, was
sie fühlte, war Verwirrung, eine unendlich große, tiefe Verwirrung.
     
    *
     
    Die Hufe der Zugpferde sanken tief in nasse, schwere Erde. Das
Land wurde hügeliger, und damit schwieriger zu überschauen. Sie kam nur mühsam
voran auf ihrem Weg in östlicher Richtung, jene kleine Kolonne, angeführt und
abgeschlossen von Reitersoldaten, dazwischen die wenigen Wagen: im ersten der
berühmte Verletzte, der im ganzen Land für tot gehalten wurde, sein Arzt und
dessen Gehilfin im zweiten, dann die restlichen Wagen mit den Offizieren,
zusätzlichen Soldaten sowie Proviant und Munition.
    Jeder zurückgelegte Kilometer versetzte Bernina einen Stich ins
Herz. Auch wenn sie nicht wusste, wo Anselmo sich befand, kam es ihr vor, als
würde sie weiter und weiter von ihm weggetrieben werden. Doch sie hatte nicht
die geringste Ahnung, was sie dagegen tun konnte.
    Zu einem Gespräch mit dem Oberst war es nicht mehr gekommen. Seine
Offiziere schirmten ihn ab, und selbst Melchert Poppel sah nur noch sporadisch
nach ihm.
    »Ich habe ihm mitgeteilt, dass Sie ihn sprechen möchten«, sagte
der Arzt während der Reise zu Bernina. »Ich weiß, wie schwer er verwundet
wurde, aber verletzt oder nicht: Manchmal führt er sich einfach auf wie ein
verwöhntes Kind. Vielleicht macht es ihm Spaß, Sie und mich hinzuhalten. Sie
kennen ihn ja inzwischen, Bernina: Er ist nicht gerade leicht zu durchschauen.«
    »Er hat seine Hand verloren«, antwortete Bernina schlicht. »Das
ist ein Schlag, den man normalerweise nicht so einfach verkraftet, oder?«
    »Seine Hand, ja, die hat er verloren. Nicht aber seinen

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