Das Geheimnis der Krähentochter
für jemanden, der
sich erholen muss. Auf jeden Fall wird die Wachmannschaft noch verstärkt.
Außerdem werden zusätzliche Wagen mit Pferden erwartet. Kraubach war fürs Erste
nicht schlecht. Aber noch viel länger hierzubleiben, ist für Falkenberg mit
Sicherheit nicht ratsam. Wir sind hier doch noch etwas zu nahe beim Feind.«
»Wann werde ich Gelegenheit haben, mit dem Oberst zu sprechen?«
»Sie meinen, wegen Anselmo?«
»Ja, natürlich. Sie sehen doch auch keine andere Chance, die Suche
nach Anselmo wieder aufzunehmen, oder? Wenn ich Falkenberg dazu bewegen
könnte …« Sie verstummte.
Poppels Miene drückte Zustimmung aus. »Gewiss, der Oberst hat
andere Möglichkeiten, als sie Ihnen oder mir zur Verfügung stehen. Aber eines
nach dem anderen.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja, vielleicht gelingt es
mir ja noch, ihm diese Idee mit dem Gut auszureden.«
»Ihm etwas ausreden? Keine leichte Aufgabe, so wie ich mir
Falkenberg vorstelle.«
Der Arzt lachte auf. »Ja, am Ende wird er doch seinen Dickschädel
durchsetzen. Aber deshalb werde ich mir jetzt trotzdem seinen Wein schmecken
lassen.« Er öffnete die Tür.
»Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei dem törichten Männergerede, wie
Sie es nannten.«
Mit einem Zwinkern ließ er Bernina allein in der Stille der Kammer
zurück, umhüllt vom zitternden Schein einer Kerze, die sie zuvor entzündet
hatte. Sie streckte sich auf ihren Decken aus. Die Erschöpfung der
zurückliegenden Wochen hatte sich aus ihrem Körper vertreiben lassen. Sie war
erholt, hatte wieder Kraft geschöpft. Der ungestörte Schlaf hatte seinen Teil
dazu beigetragen.
Vom unteren Stockwerk drangen die Stimmen der Männer gedämpft zu
ihr nach oben. Sie konnte hören, wie angestoßen und gelacht, wie Stühle gerückt
wurden. Ansonsten war es still.
Bernina dachte an den Petersthal-Hof, und ihr wurde bewusst, dass
die schönen Erinnerungen an Hildegard, Wolfram Vogt und all die anderen
Menschen dort auch stets mit der Erinnerung an deren Mörder verbunden sein
würden. Beides schien offenbar untrennbar miteinander verwoben zu sein. Es war
verrückt, dass dieser eine Tod bringende Morgen so viele unbeschwerte Jahre
aufzuwiegen vermochte.
Plötzlich war da ein Geräusch, das ihre Aufmerksamkeit erregte,
ein Geräusch, das nach einer Stille erneut erklang, und dann gleich noch
einmal. Es war nicht laut, aber doch laut genug, sich gegen die vom Gemäuer
abgeschwächten monotonen Männerstimmen von unten abzuheben.
Bernina stand auf.
Abermals das Geräusch.
Sie ging zu der schmalen Tür, strich ihr Haar zurück und legte das
Ohr ans rissige Holz.
Da war jemand. Auf dem Gang.
Sie meinte sogar, ein Atmen vernehmen zu können. Und dennoch kam
es ihr so vor, als könne sie die Anwesenheit des anderen eher spüren als hören.
Sie pustete die Kerze aus, und ein Lichtschein zwängte sich sogleich von außen
unter der Kammertür hindurch. Also brannte auch auf dem Gang eine Kerze.
Bernina holte tief Luft und öffnete die Tür mit einem entschlossnen Ruck. Der
Lichtschein auf dem Flur kam von der geöffneten Zimmertür an dessen Ende.
Diesen Raum hatte gerade jemand verlassen.
Bernina stand wie angewurzelt auf der Schwelle zur Kammer und
betrachtete die Gestalt, die ihrerseits innehielt. Der Anblick hatte etwas
Gespenstisches. Dieses Nachthemd, das bis zu den Knien reichte, makellos weiß,
ebenso die Gesichtshaut, weißer als weiß. Hellblond das Haar, beinahe farblos
legte es sich in wilden Wirbeln um die Ohren und auf die Schultern.
Es war tatsächlich, als könne Bernina durch die Gestalt hindurch
die Wand dahinter sehen.
Auf diesen ersten überraschten Blick waren allein die Augen
menschlich, so durchdringend wie eh und je. Mit klarem Ausdruck folgten sie
Berninas Blick, der die Ledermanschette wahrnahm. Sie umschloss den Stumpf des
linken Armes, verstärkt durch über Kreuz verschnürte Riemen, dort, wo sich
eigentlich Hand und Handgelenk befinden sollten. Bernina blickte zu den nackten
Waden und Füßen, und ausgerechnet die verliehen dem Mann etwas, das er bei
ihren ersten Begegnungen nicht offenbart hatte, nicht einmal als er wie ein
Todgeweihter in seinem Bett gelegen hatte. Die nackten schutzlosen Füße
vermittelten Verletzlichkeit.
Einen kurzen Moment sah es so aus, als würden
seine Lippen zittern. Doch dann verbogen sie sich nur zu diesem Grinsen, das
Bernina an Jakob von Falkenberg wesentlich vertrauter war.
»Was erblicken meine Augen?«, flüsterte er. »Doch nicht etwa
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