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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Gebäude Gestalt
an. Nicht wie die finsteren Häuser von Kraubach, plötzlich und überfallartig,
wie von schwarzer Magie herbeigezaubert, sondern langsam, in aller
Betulichkeit, mit der Vornehmheit, die der Welt nichts beweisen muss. Es
erstrahlte in reinstem Weiß, wie frisch gefallener Schnee, mit kleinen Türmen
und Erkern und einer weiteren Engelsfigur über dem Eingangsportal.
    Die Sonne begann zu versinken und tauchte alles in ein weiches
Licht, das in Bernina das flirrende Gefühl auslöste, sie erlebe gerade eine
Sinnestäuschung und nichts von ihrer Umgebung würde wirklich existieren.
    »Das ist also der Palast, von dem Sie sprachen.« Sie konnte nicht
umhin, sich von dem Anblick ein wenig einschüchtern zu lassen. »Ich habe noch
nie einen solchen Prachtbau gesehen.«
    »Ja.« Poppel nickte. »Es ist zwar kein Schloss, aber beinahe so
schön. Und so nennt man es auch: Schloss Wasserhain. Nach seinem Besitzer, dem
Grafen zu Wasserhain. Ich habe oft gehört, wie wundervoll es hier sein soll.
Offenbar zu Recht.«
    Die Kolonne der Wagen wand sich in einem Halbkreis um den Brunnen
und machte schließlich Halt. Sofort öffnete sich das Portal und Soldaten
strömten aus dem Gebäude. Sie trugen hellblaue Seidenbänder um die Arme
gebunden, die sie als Angehörige von Falkenbergs Truppen auswiesen. Ihnen
folgte ein Heer an Bediensteten und dann auch der Herr dieses märchenhaften
Palasts – so elegant wie dickbäuchig, so erhaben wie kurzbeinig
präsentierte sich Heinbold Graf zu Wasserhain.
    Überschwänglich begrüßte er den Oberst, der auf einer Bahre,
begraben unter mehreren Decken, an ihm vorbeigetragen wurde und nur ein paar knappe
Bemerkungen für den Gastgeber übrig hatte. Bernina versuchte einen Blick auf
Falkenberg zu erhaschen, doch um ihn herum war zu viel Bewegung, unzählige
Menschen, und im nächsten Augenblick hatte man ihn auch schon in den Palast
gebracht.
    »Heute wird unsere Nachtruhe eine besonders angenehme sein.«
Poppels Miene drückte Zufriedenheit aus, als er und Bernina vom Wagen stiegen.
    »Warum?«
    »Meine Liebe, Sie sehen doch, unser Quartier ist um einiges
vielversprechender als mein Planwagen oder diese armselige Kammer in dem Haus
in Kraubach.«
    »Unser Quartier?«, wiederholte sie ungläubig. »Sie meinen doch
nicht etwa, dass wir, dass ausgerechnet ich in diesem Palast …?«
    Er betrachtete sie aus gütigen Augen. »Ein Gefühl sagt mir, dass
Sie heute Nacht wie die Prinzessin schlafen werden, die Sie in Wirklichkeit
sind.«
    »Ich weiß nicht, was ich von Ihren Schmeicheleien halten soll.«
    Wie sich rasch herausstellte, sollte Melchert Poppel recht
behalten. Bernina wurde ein Zimmer zugewiesen, und erst nach einer Weile
begriff sie, dass sie allein es benutzen durfte. Ein großes Zimmer, größer als
jeder Raum im Hauptgebäude des Petersthal-Hofes. Das erste Zimmer, das Bernina
wirklich für sich hatte. Holzfußboden, stuckverzierte hohe Decke, ein Gemälde,
das den Palast zeigte.
    Fast nahmen ihr dieser Anblick und der Duft
eines versprühten Wässerchens den Atem. So viele Jahre im Schuppen für die
Knechte und Mägde auf dem Petersthal-Hof, dann die Hütte der Krähenfrau, die
Wagen der Gaukler, der Planwagen des Feldarztes und die Schlachtfelder des
Krieges – was für Gegensätze angesichts ihrer jetzigen Umgebung, die wie
eine neue Welt war. Ein riesiges Fenster mit Sicht auf die Parkanlagen und die
Birken, ein schwerer Samtvorhang, Gardinen, die so fein, so hauchzart waren,
dass Bernina dieses Nichts von Stoff immer wieder durch ihre Finger gleiten
lassen musste. Ein silbern glänzender Lüster, ein Bett so hoch und breit und
lang, bedeckt von weißer Bettwäsche, die nach Blüten zu duften schien und in
die man eintauchen konnte wie in einen Schwarzwaldteich an einem heißen
Sommertag.
    Am Abend sah sie noch einmal den Arzt, der jedoch nicht zu wissen
schien, was sie hier erwarten und wann Bernina die Möglichkeit erhalten würde,
mit Jakob von Falkenberg zu sprechen. Sie unterhielten sich noch kurz, ehe
Poppel sich zurückzog. Das ihm zugeteilte Zimmer grenzte an jenes von Bernina.
Ein Umstand, der sie beruhigte. Sie fühlte sich verloren hier – allein die
Anwesenheit des Arztes stellte etwas Vertrautes dar.
    Als sie sich kurz darauf in das Bett legte und das Gefühl hatte,
unter der endlosen Zudecke ertrinken zu können, wurde ihr ganz unwohl. Ich
verbringe die Nacht in einem Palast, dachte sie – und Anselmo durchleidet
womöglich die schlimmste

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