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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Regenwasser vollgesogen, lagen
die Trümmer aus verbranntem Holz vor ihr, und Bernina vermochte sich kaum
vorzustellen, dass das alles sein konnte, was von ihrem gesamten bisherigen
Leben noch sichtbar war.
    Einen furchtbaren Moment lang dachte sie, es wäre besser gewesen,
die Krähenfrau hätte sie nicht aufgehalten und sie wäre in dieser Hölle
gestorben. Gemeinsam mit den Menschen, mit denen sie ihr Leben geteilt hatte.
Seit Bernina zurückdenken konnte, gehörte sie zu diesem Hof. Ihre Eltern hatte
sie nie kennengelernt. Als kleines Waisenmädchen, höchstens drei oder vier
Jahre alt, war sie in Begleitung einer Wandermagd auf den Hof gekommen –
und von Beginn an mit ihm verwachsen.
    Die Magd war bald darauf gestorben. Bernina jedoch, dieses hübsche
fröhliche Kind, das sollte bleiben. So war es zumindest der Wunsch der
Hofbesitzer, die Bernina rasch ins Herz geschlossen hatten. Diese abgelegene
Talsenke wurde zu ihrer Welt. Abgesehen von Abstechern ins nächste Dorf, wo sie
den anderen Bediensteten dabei half, Äpfel, Gurken, Rüben, Hühnereier und auch
einige der Hühner selbst zu verkaufen oder gegen anderes Gut einzutauschen, kam
Bernina nie über die engen Grenzen des Tals hinaus.
    Grund und Boden, einfach alles hier, von der kleinsten Maus bis
zum größten Ackergaul, gehörten Wolfram Vogt, einem hart arbeitenden Mann, der
zu den wohlhabenderen Bauern im Umkreis zählte. Das blieb auch dann der Fall,
als die Wirren des Krieges sich bis in die letzten Winkel des Schwarzwaldes
erstreckten. Während Siedlungen und viele Gehöfte ausgeplündert wurden, manche
sogar mehrfach, von immer wieder anderen Armeen, schien ein Schutzengel seine
Hände über den Petersthal-Hof und seinen Besitzer zu halten. Bis zu jenem Tag,
als die Reiter kamen.
    Noch immer fühlte Bernina sich wie benommen, als sie unverändert
langsam auf das Hauptgebäude des Hofes zuging, das einzige aus Stein errichtete
und damit auch das einzige, das noch halbwegs unversehrt war und dem Feuer
standgehalten hatte.
    Nicht nur Wolfram Vogt hatte Bernina ins Herz geschlossen. Seine ganze
Familie, neben seiner Frau auch die vier Kinder, mochten das hübsche Mädchen.
Besonders mit Hildegard, Vogts zweitjüngster Tochter, die in Berninas Alter
war, verstand sie sich prächtig. Sie wuchs nicht auf wie ein Familienmitglied,
schlief auch jede Nacht in dem zugigen Holzschuppen für die Knechte und Mägde,
und doch war sie mehr als nur eine Hilfskraft. Bernina lernte nähen und
stopfen, Hühner rupfen, sie half bei der Ernte, beim Heueinholen, sie übte sich
im Kochen und Backen, immer zusammen mit Hildegard.
    Jetzt war Bernina 20 Jahre alt – und Hildegard war tot. Tot
wie der Rest ihrer Familie, wie die übrigen Knechte und Mägde. Umgebracht und
dann ins Feuer geworfen oder von der Krähenfrau begraben, ohne ein Gebet, ohne
Andacht. Wie verendetes Vieh.
    Noch immer war das Geschehene zu mächtig für Bernina, ragte vor
ihr auf wie ein Bergmassiv. Voller Ehrfurcht betrat sie das Hauptgebäude, in
dem die Familie Vogt gewohnt hatte. Trotz des Brandes, trotz der Regengüsse,
die durch das von Flammen beschädigte Dach ins Innere gedrungen waren, nahm
Bernina vertraute Gerüche wahr. Düfte, die sich offenbar auf ewig hier
festgesetzt hatten. Sie roch das Kirschbaumholz der mit Äxten malträtierten
Küchenbänke, sie roch die geräucherten Würste, die früher am Küchendurchgang
hingen, das Brot, das gebacken worden war, sie roch die Menschen, zu denen sie
gehört hatte, den Pfeifenqualm Wolfram Vogts, das frisch gewaschene Haar
Hildegards.
    Erst jetzt und hier kamen die ersten Tränen. Sie rannen einzeln an
ihren Wangen hinab, während Bernina mit fassungslosen Augen all das
betrachtete, was verloren war.
    Nicht nur die Küchenbänke, alles war mit Äxten zerstört worden.
Was sie sah, war ein einziges wildes Durcheinander aus Trümmern und Scherben.
Und Blut. Überall dunkelrot eingetrocknetes Blut.
    Sie hielt inne, jeder einzelne Atemzug war so unendlich schwer,
jeder Blick schmerzte in Berninas Innerstem. Stufe für Stufe ging sie die
Treppe hoch ins obere Stockwerk. Nie war sie hier gewesen, vielleicht einmal
als Kind, aber bestimmt nicht mehr seit über zehn oder noch mehr Jahren. Hier
befanden sich die Schlafräume der Familie, deshalb hatte Bernina sich niemals
hier aufgehalten.
    Oben das gleiche Chaos wie unten. Die Türen der einzelnen Zimmer
waren aus den Rahmen gerissen worden, Fetzen zerrissener Kleidung und von
Decken und Vorhängen

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