Das Geheimnis der Krähentochter
und in ihrem
Unterbewusstsein erinnerte sie sich an den Apfel, den ihr Anselmo einst
zugeworfen hatte.
Langsam faltete sie den Stoff auf. Obwohl das gar nicht nötig war,
hatte sie doch längst erkannt, worum es sich handelte. Um eine Pluderhose, eine
verschmutzte, löchrige Pluderhose mit ziemlich auffälligem Muster in rot und
gelb.
Langsam legte Bernina die Hose auf einen der elegant bezogenen
Stühle. Sie war völlig gefasst. Es konnte tatsächlich Anselmos Hose sein, aber
sie war sich nicht sicher. Ohne ein Wort zu äußern, richtete Bernina ihren
Blick wieder auf den Oberst. Mit einem rätselhaften Ausdruck in den Augen sah
er sie an. Er wühlte wieder im Sack und förderte etwas zutage.
Auch dieses Stück war zusammengefaltet, aber kleiner als zuvor die
Hose. Es handelte sich um einen schlichten weißen Leinenstoff. »Zugegeben«,
meinte er, »es hat lange gedauert. Jetzt jedoch herrscht Klarheit über den
Verbleib des Gesuchten.« Er machte eine Pause. »Ich hätte mir für Sie eine
bessere Nachricht gewünscht.«
Bernina hielt seinem Blick stand. Ihre Lippen waren
zusammengepresst.
»Mir bleibt nichts anderes übrig, als Ihnen zu sagen«, sprach der
Oberst weiter, »dass der Mann tot ist.«
»Das glaube ich nicht!«, entfuhr es Bernina.
»Ich allerdings bin überzeugt davon. Unsere Nachforschungen lassen
keinen Zweifel. Er starb bei einem Angriff der Armee Arnim von der Taubers. Und
zwar als er damit beschäftigt war, Verteidigungsgräben auszuheben.«
»Das glaube ich nicht«, wiederholte Bernina mit harter Stimme.
Statt einer Antwort gab Falkenberg ihr nun den zweiten Stoff.
Genau wie zuvor, mit ganz ruhigen Händen, faltete sie den
Leinenstoff auf. Darin war etwas eingewickelt, etwas Festes. Bernina holte
Luft. Was schließlich zum Vorschein kam, war ein Ring.
Diesmal gelang es Bernina nicht, ihre Fassung zu bewahren.
Sie starrte auf das Schmuckstück.
Ein goldener Ring, ein Ring ohne besonderes Merkmal, ein Ring, wie
es unzählige auf der Welt gab.
Und doch wusste Bernina, spürte sie, dass es jener Ring war, mit
dem Anselmo sie irgendwo auf dem langen Weg nach Ippenheim, im Lager der
Gaukler, überrascht hatte. Dass es jener Ring war, den er an ihrer gemeinsamen
Hochzeit über Berninas Finger streifen wollte. Sie sah Anselmo vor sich, wie er
damals den Ring gehalten hatte, erinnerte sich an dieses überwältigende
Leuchten in seinen Augen, dachte an dieses Lächeln, das nur er zustande
brachte.
»Es tut mir wirklich ausgesprochen leid, Bernina«, hörte sie von
ganz weit her die Stimme Jakob von Falkenbergs.
Hölzern ging sie zur Tür. Jeder Schritt fiel ihr seltsam schwer,
als wären ihre Beine aus Blei.
Kapitel 6
Der Duft des Paradieses
Der Schnee kam mit einer Unbezwingbarkeit, wie sie sonst wohl nur
der Krieg besaß. Er bedeckte die Welt, begrub sie unter sich. Es schien nur
noch ihn zu geben, diese makellos reine, undurchdringliche Masse, die alles in
dumpfer Bedeutungslosigkeit erstarren ließ. Ihr gelang es, scheinbar bis in
alle Ewigkeit andauernden Schlachten und Belagerungen ein Ende zu setzen, sie
trieb marodierende Banden in ihre Verstecke, versperrte Nachschubwege, stoppte
Versorgungszüge und Meldereiter.
Auf dem großen Fenster im Erdgeschoss von
Schloss Wasserhain hatte sich ein Rahmen aus Frost gebildet, und das Bild, das
er eisig umschloss, blieb über viele Wochen unverändert. Nichts zu sehen außer
diesem Schnee, der alles weiß malte, auch die Straße, die zu dem großen
Eingangsportal führte und auf der es keine Huf- oder Wagenspuren mehr gab. Der
Palast und die dazu gehörenden, sich weitflächig ausbreitenden Ländereien
erstarrten in ihrer Abgeschiedenheit. Dank unterirdischen, sich offenbar
niemals leerenden Vorratskammern hatten die vielen Bediensteten keine Mühe, die
Tafeln immer wieder mit schmackhafter Nahrung zu decken, doch das Bedürfnis
nach Nachrichten und Neuigkeiten konnte auf diese Weise nicht gestillt werden.
An den Abenden erklang manchmal die Musik eines Spinetts, die durch die Flure
wehte. Die zerbrechlichen Klänge stemmten sich mühevoll dem Lärm der von
draußen durch das Gemäuer brüllenden Winterwinde entgegen. Gelächter brandete
auf und verebbte, bisweilen auch Stimmen, die in hitzigen Diskussionen
entflammten, angeregt vom Wein und vom Nichtstun.
Die einzelnen Worte waren dabei ohne Bedeutung, es blieb nur ein
Brodeln, das sich ebenso wie die Musik durch die Flure kämpfte und schließlich
zu dem Zimmer mit dem großen,
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