Das Geheimnis der Krähentochter
Menschen
herrschte. Sie arbeiteten für ihn und verehrten ihn.«
»Ein lebender Toter?« Zweifelnd legte Bernina ihre Stirn in
Falten. »Sie überraschen mich, Herr Poppel.«
»Ich sage nicht, dass ich das alles glaube. Nur begegneten mir
früher immer wieder diese Gerüchte, je weiter ich in den Schwarzwald kam. Wie
gesagt, das war früher. Aber ich vergaß den Namen des Hofes nie. Und dann hörte
ich ihn wieder aus Ihrem Mund.«
Bernina legte ihre Hand auf Poppels Schulter. »Ich bin auf dem
Petersthal-Hof aufgewachsen, und ich sage Ihnen, bessere, rechtschaffenere
Menschen als es dort gab, kann ich mir kaum vorstellen.«
Insgeheim allerdings musste Bernina bei diesen Worten an die
Andeutungen denken, die die Brunners in Ippenheim über den Hof gemacht hatten.
Und daran, dass die Krähenfrau sie davor gewarnt hatte, allzu viel über ihre
Herkunft preiszugeben. Wie mochten diese Gerüchte und Geschichten entstanden
sein, die ihren Weg sogar bis zu Melchert Poppel fanden?
Am nächsten Morgen, bald nach Sonnenaufgang, klopfte der Arzt an
Berninas Zimmertür, ohne diesmal von sich aus einzutreten. Sie hatten am Vortag
kaum noch miteinander sprechen können, da er mit den Vorbereitungen für seine
Abreise beschäftigt war – und Bernina wollte ohnehin für sich sein, allein
mit ihren Gedanken.
»Es tut mir leid, Bernina, dass ich Sie so
früh wecken muss.«
»Das macht nichts, ich habe sowieso nicht geschlafen.«
»Ich nehme an, das lag nicht nur an diesem endlosen Gewitter?«
Sie stand auf der Türschwelle ihres Zimmers und sah ihn an. »Nein,
nicht nur daran.«
»Ich wollte nicht verschwinden, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen.«
»Ich muss bleiben«, antwortete sie mit unglücklichem Lächeln.
Melchert Poppel erwiderte ihren Blick. »Die Sache mit dem roten
Fingerhut werde ich ausprobieren«, meinte er dann einfach. »Ehrlich gesagt,
beim Oberst war’s mir noch etwas zu heikel. Aber ich bin einfach zu neugierig.
Ich hoffe, ich kann Ihnen eines Tages mitteilen, wie erfolgreich Ihre Rezeptur
ist.«
»Das hoffe ich auch.«
»Ich wünsche Ihnen alles Gute. Und ich möchte doch noch eines
bemerken: Sehen Sie sich vor in diesem Palast und geben Sie nicht allzu viel
auf das, was andere über Sie sagen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun ja.« Er räusperte sich. »Man wird von Ihnen vielleicht nicht
reden wie von einer Dame.«
Sie schlug die Augen nieder. »Sie haben mir erklärt, eine Dame ist
man von innen heraus.«
Er drückte seine Lippen auf ihre Stirn. »Wenn ich eine Tochter
hätte, dann sollte sie so sein wie Sie, Bernina.«
»Herr Poppel, ich habe Sie gar nie gefragt: Haben Sie keine Familie?«
»Nein, keine Kinder. Aber ich war einmal verheiratet. Es lief
nicht sonderlich gut. Meine Angetraute war so sehr damit beschäftigt, eine Dame
zu sein, dass sie vergaß, eine Frau zu sein. Nun ja, wer weiß, wo sie heute
stecken mag.«
»Ich bin stolz, Sie getroffen zu haben«, sagte Bernina aufrichtig.
Er verneigte sich tief und zog dabei mit elegantem Schwung seinen
Hut. Ohne ein weiteres Wort, ohne einen letzten Blick ging er den Gang hinab.
Leise schloss Bernina die Tür. Als sie sich auf das Bett setzte,
hatte sie Tränen in den Augen. Um sie herum nichts als die erdrückende Stille
des Palastes. Sie dachte an jenen Moment in Ippenheim, als sie erstmals diesem
eigenwilligen Feldarzt begegnet war. Nie hätte sie es damals für möglich
gehalten, dass sie beide so viel Zeit miteinander verbringen, so viel
miteinander durchleben würden. Viel hatte sie ihm zu verdanken. Und jetzt hatte
sie noch nicht einmal ein kleines Dankeschön geäußert.
Unwillkürlich fiel ihr der Brief ein, den sie in Kraubach an sich
genommen hatte. Es war ihr peinlich gewesen, Poppel auf das gestohlene
Schreiben anzusprechen. Aber wenigstens hätte sie, ärgerte sie sich nun, auf
den simplen Gedanken kommen können, ihn unverbindlich nach Schwert und Blume zu
fragen. Er besaß ein so großes Wissen, womöglich hätten ihm auch diese Symbole
etwas gesagt.
Dazu war es jetzt allerdings zu spät. Sie zog den Brief aus ihrem
Kleid und betrachtete für einen Moment Schwert und Blume. Dann griff sie nach
der Zeichnung mit dem kleinen Mädchen.
Und sie erschrak. Das Blatt zerfiel in ihren Händen. Es war von
Schweiß und Regen und Todesangst getränkt worden, vom Blut sterbender Soldaten,
es war mitten im Krieg gewesen, da, wo er besonders heftig getobt hatte.
Bernina sammelte die auf die Bettdecke gefallenen Papierreste ein und
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