Das Geheimnis der Krähentochter
erinnerte
sich an das beeindruckende Gemälde in Ippenheim. Die Welt war voller Rätsel,
ihr Leben war voller Rätsel.
Sorgfältig verstaute sie den Brief wieder, dann erhob sie sich vom
Bett, um zum Fenster zu gehen. Wie am Vortag schob sie den Vorhang zurück.
Düster der morgendlich kalte Himmel, der wie schmutzige graue Wolle über der
Erde klebte.
Unbeweglich stand Bernina da. Es war seltsam für sie, Melchert
Poppel nicht mehr in ihrer Nähe zu wissen. Der Palast, so makellos, so
wundervoll, so schön er sein mochte, strahlte auf einmal etwas geradezu
Bedrohliches aus.
*
Eine Woche, ein Tag, ein Wimpernschlag. Alles war gleich lang,
alles fühlte sich endlos an. Die Zeit schien stillzustehen, obwohl Bernina doch
durch das große Fenster in ihrem Zimmer sehen konnte, dass alles seinen Lauf
nahm und sich Tage mit Nächten abwechselten. Aus kalten Böen wurden eisige
Winde, aus Regentropfen wurde Schnee, der dumpf gegen das Glas klatschte. Er
fiel auf die Birken und Parkanlagen, tränkte die Erde, hatte aber noch nicht
genug Kraft, sich festzusetzen.
Das Warten war schlimmer als körperlicher Schmerz, es ging tiefer,
war übermächtig. Es quälte sie, es lähmte sie, es war immerzu bei ihr. Nichts
tun zu können, diesem Warten ausgeliefert zu sein, zerrte stärker an ihren
Nerven, als sich mitten im Getümmel einer Schlacht zu befinden.
Den vielen Aufforderungen, überbracht durch
den einen oder anderen Diener, Bernina solle in den Gemächern Jakob von
Falkenbergs erscheinen und ihm Gesellschaft leisten, widersetzte sie sich.
Bernina schob Ausreden vor, gab an, sich äußerst unwohl zu fühlen, erkältet zu
sein. Sie konnte es einfach nicht – sie wollte niemanden sehen, weder
Falkenberg noch sonst einen Menschen. Nur Anselmo. Sie war schon so lange von
ihm getrennt. Doch sie bekam keine Nachricht von ihm. Die junge Frau schlief so
gut wie überhaupt nicht, sie hatte keinen Hunger, nippte nur ab und zu am kalt
gewordenen Tee und starrte, auf dem Bett kauernd, unentwegt aus dem Fenster.
Schneeregen und Nebelfelder, trübes Tageslicht, peitschender Wind bei Nacht.
Der Herbst war früher als sonst dabei, in den Winter überzugehen, als eines
Morgens wiederum ein Diener mit der Ankündigung bei Bernina erschien, sie würde
bei Oberst Jakob von Falkenberg erwartet.
Es war wie immer, und sie überlegte, welche Ausrede sie diesmal
vorbringen würde, als der Diener hinzufügte: »Der Oberst lässt Ihnen ausrichten,
dass ein Bote eingetroffen ist – ein Bote mit überaus wichtigen
Nachrichten für Sie.«
»Ein Bote?«
Bernina schluckte. Derart sehnsüchtig hatte sie auf diesen Moment
gewartet – und nun, da er da war, kam ihr alles merkwürdig fremd vor,
irgendwie unwirklich.
Als sie kurz darauf vor Falkenberg stand, war alles genau wie beim
ersten Mal. Er lag so da, wie sie es in Erinnerung hatte, gestützt von zwei
Kissen im Rücken, bekleidet mit dem von Rüschen gezierten Nachtgewand, den
Armstumpf in der Manschette, die rechte Hand auf die Decke gelegt.
Bernina fühlte ihren eigenen Herzschlag ganz deutlich.
»Schön, Sie einmal wieder zu sehen«, empfing Falkenberg sie fast
teilnahmslos.
Seine Wangen waren nicht mehr so bleich, auch schien er an Gewicht
zugelegt zu haben. Der Schnurrbart war akkurat nach oben gezwirbelt, das lange
Haar ein wenig gekürzt.
Bernina versuchte, sich auf diese Details zu konzentrieren, um
sich selbst besser in der Gewalt zu haben. Es war ihr nicht möglich, etwas zu
äußern, so ausgetrocknet war ihr Mund.
»Es hat eine ganze Weile gedauert«, fuhr Falkenberg fort, als sie
nichts sagte, »aber nun konnte endlich die Spur jenes Mannes aufgenommen
werden, den Sie so sehr vermissen.«
Irritierend sachlich, wie Falkenberg sprach, wie er ein Wort ans
andere fügte, als lese er einen Bericht vor. Seine rechte Hand lag ruhig vor
ihm.
»Was haben Sie über Anselmo herausgefunden?«, hörte sie nun doch
die eigene Stimme, und sie klang sonderbar und rau.
Falkenberg beugte sich auf einmal zur Seite
seines Bettes und hob einen Sack auf, den Bernina zunächst nicht bemerkt hatte.
Er legte ihn vor sich ab. Es war ein Hafersack, wie die Armee ihn bei der
Fütterung der Pferde verwendete, fleckig und zerschlissen. Das Stück passte
nicht in seine so betont saubere Umgebung.
Der Oberst griff hinein und hielt etwas in die Höhe.
Zusammengefalteter Stoff, Seidenstoff. Mit einem Blick, in dem plötzlich etwas
Hartes aufschimmerte, reichte er Bernina den Stoff. Sie nahm ihn,
Weitere Kostenlose Bücher