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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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von Frost eingerahmten Fenster gelangte, in dem
sowohl tagsüber als auch nachts Stille herrschte. Eine tiefe, undurchdringliche
Stille.
    Auch in der jungen Frau, die dieses Zimmer bewohnte, war alles
erstarrt, von einer Schicht aus Frost überzogen. Stunde um Stunde sah sie aus
dem Fenster, verlor sich ihr Blick in der Landschaft. Sie lag auf dem Bett oder
saß auf einem Stuhl, der eigentlich zu einem Schreibtisch gehörte, den sie
jedoch direkt ans Fenster geschoben hatte. Immer in ihrem Leben hatte sie etwas
zu tun gehabt, an jedem einzelnen Tag, auch in jener Zeit auf dem
Petersthal-Hof, bevor die Reiter aufgetaucht waren, um Tod und Verwüstung zu
bringen. Nie hatte sie sich gehen lassen.
    Jetzt verharrte Bernina schon seit vielen Wochen geradezu
regungslos, gedankenlos. Sie kannte sich nicht so. Aber ihr war alles
vollkommen egal geworden. Zum ersten Mal in ihrem Leben ergab sie sich, zum
ersten Mal hatte sie keine Kraft, keinen Mut. Sie fühlte sich einsam und
verloren. Sie war ohne Hoffnung, ohne Sehnsucht.
    Allein ein bestimmtes Bild durchdrang die bleierne
Gleichgültigkeit in ihren Gedanken. In all den zurückliegenden Wochen und
Monaten hatte sie sich stets gewehrt, es vor ihrem inneren Auge entstehen zu
lassen. Doch immer wieder überfiel es sie in ihrer Wehrlosigkeit. Das Bild Anselmos,
des toten Anselmos, aus dessen Brust ein Messer ragte. Ein Messer, das von
Bernina festgehalten wurde.
    Also war es doch so gekommen, wie Rosas Stein der Wahrheit es
vorweggenommen hatte. Bernina hatte Anselmo umgebracht. Nicht mit ihren eigenen
Händen wie in jenem schrecklichen, unauslöschlichen Bild, aber doch getötet.
Ihre Meinungsverschiedenheiten hatten Anselmo aufspringen lassen, damals in dem
Schuppen in Ippenheim, und geradewegs ins Verderben getrieben.
    Es war ihre Schuld. Wie Rosa es voller Hass gesagt hatte. Was
blieb, war die Stille. Und die Leere in ihr. Nur wenn Bernina leise die Musik
und die Stimmen hörte oder wenn ein Diener erschien, um ihr Essen aufzutragen,
wurde sie daran erinnert, dass es noch andere Menschen gab. Dass das Leben, auch
wenn die Welt scheinbar eingefroren war, doch irgendwie voranschritt.
    Was diese Menschen hier im Palast über sie denken mochten, dass
sie sich womöglich über sie wunderten, kümmerte Bernina nicht im Geringsten.
Gleichgültig blickte sie an den feinen Speisen vorbei, die ihr auf einem
silbern glänzenden Tablett hingestellt wurden, ohne Hunger zu verspüren.
Außerdem fühlte sie sich nicht berechtigt, ausgiebig davon zu essen. Wenn sie
nur an einem Stück Brot herumkaute, kam sie sich vor wie eine Diebin. In regelmäßigen
Abständen ertönten spät abends Schritte, die keinem Bediensteten gehörten und
sich auf ihre Zimmertür zubewegten, um dort zu verharren.
    Sie betrachtete dann das Holz der Tür, das so weiß war wie die
Landschaft da draußen, und ließ ihren Blick darauf ruhen, als wäre es ihr
möglich hindurchzustarren. Doch das war nicht einmal nötig. Bernina wusste auch
so, wer sich dahinter befand. Sie fühlte es, war sich dessen jedes Mal absolut
gewiss.
    Gelegentlich war ihr, als könne sie ihn atmen hören, das Duftwasser
riechen, das er benutzte. Auch spürte sie seine Augen. Immer wieder hielt sie
den Atem an. Was sie nicht ahnen konnte, waren seine Gedanken und seine
Absichten. Sie fühlte sich angespannt. Würde er den Raum betreten? Mit dieser
anmaßenden Art, sich fortzubewegen und die eigene Umgebung zu betrachten?
    Das Zögern, das Abwarten, all das schien seiner Natur zu
widersprechen. Manchmal glaubte Bernina zu spüren, wie sich seine gesunde Hand
hinter der Tür auf die Klinke legte. Immer wieder jedoch endete dieses stumme
Intermezzo auf die gleiche Art: Er drehte sich um, ein kurzes entschiedenes
Schnarren seiner Absätze auf dem Boden, um dann den Flur, durch den er
hergekommen war, in entgegengesetzter Richtung zurückzugehen.
    Bernina lauschte, wie seine Schritte verklangen. Es waren
Schritte, die mit jedem der merkwürdigen, unvollendeten Besuche hörbar fester
wurden. Offenbar war Oberst Jakob von Falkenberg dabei, seine alten Kräfte
wiederzuerlangen. Nur Bernina blieb, wie sie war, ohne Antrieb, ihre Umgebung und
sich selbst einfach ignorierend.
    Weiterhin hielt der Winter alles in seinem eisenharten Griff. Die
Tage stahlen sich endlos an Bernina vorbei. In den Nächten schlief sie zuweilen
wie ein Stein, stundenlang, dann überhaupt nicht, keinen einzigen Moment. Ein
stumpfer Rhythmus aus hell und dunkel, unterbrochen vom

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