Das Geheimnis der Krähentochter
Klang der Stiefelsohlen
vor ihrer Tür.
Die Schritte hörten sich nun eher wieder schleppend an. Allerdings
nicht, weil der Oberst einen schwächenden Rückfall erlitten hätte, sondern weil
er immer öfter dem Alkohol zusprach. So wie sein Duftwasser vermochte Bernina
inzwischen auch das Aroma von Branntwein wahrzunehmen, das sich durch die
Türritze in das stille Zimmer zwängte. Jedes Mal diese knisternde Lautlosigkeit
zwischen ihnen beiden, bevor Falkenberg sich schließlich in einen anderen Teil
des Palastes zurückzog.
Neuerliche Schneestürme, das alte Jahr hörte auf, ein neues
begann. Vor Berninas Fenster bildeten sich dicke Eiszapfen, in denen sich die
Sonnenstrahlen widerspiegelten, die sich an klaren Tagen über die tote
Landschaft bis zum Horizont zogen. Dann schob sich die Dunkelheit wieder heran
und breitete sich ohne Eile über der Welt aus, begleitet vom kalten Funkeln
unzähliger Sterne. Es wurde Bernina bewusst, dass sie auf das Klacken der Stiefelsohlen
wartete. Als wären diese Geräusche das Einzige in ihrem Leben, dem sie noch
eine gewisse Aufmerksamkeit zubilligte. Und schon bald, der Abend hatte gerade
begonnen, ertönten die Schritte auf dem Flur. Diesmal jedoch klangen sie
anders. Schneller, kürzer. Womöglich auch entschlossener.
Bernina richtete sich im Bett auf, lenkte ihren Blick zur Tür.
Es war kein Mann, der sich ihrem Refugium näherte. Auch keine
dieser jungen Frauen, die die Zimmer und Flure säuberten, denn deren Schuhwerk
war grob und geräuschvoll. Diese Schuhe waren anders, ihre verhaltenen,
abgehackten Laute klangen fremd. Nie zuvor hatte Bernina sie gehört.
Sie setzte sich noch ein wenig gerader auf, stellte sich dann
instinktiv neben das Bett und legte die Arme um ihren Körper. Unter ihren
Händen fühlte sie den Stoff ihres alten Kleides. Mit der Zungenspitze fuhr sie
sich kurz über die Lippen.
Als die Tür aufsprang, erzitterte sie.
Ein paar Momente verstrichen, schoben sich durch den Raum wie
große unförmige Wolken.
Kurze, aufstampfende Beine, ausladender, gut genährter Oberkörper,
fleischige Wangen. Alles rund an dieser Gestalt, bis auf die stechenden Blicke.
Im ersten Moment hatte Bernina gedacht, der Besitzer des Palastes wäre eben in
das Zimmer eingedrungen. Doch es war nicht Heinbold Graf zu Wasserhain, den sie
an ihrem Ankunftstag kurz gesehen hatte, sondern eine Frau.
Bis auf die auffällige Halskrause, für die eine mächtige, mehrere
Meter lange Stoffbahn in zahllose Falten gerafft wurde, war die Fremde schlicht
gekleidet, aber dennoch elegant. Was diese Eleganz ausmachte, waren die teuren,
besonders gut verarbeiteten Stoffe ihres Gewandes, das nur an einigen Stellen
von Schmuckelementen verschönert wurde: kunstvoll eingewobene Goldfäden und
kleine, vereinzelt angebrachte Edelsteine funkelten Bernina entgegen.
»Junge Dame.« Die Stimme war so spitz wie der Blick. »Ich müsste
mich für mein Eindringen entschuldigen, aber dafür fehlt es mir an Zeit.«
Bernina war viel zu verdutzt, um antworten zu können.
»Also, junge Dame.« Ein schnippischer, vielleicht auch gereizter
Ton mischte sich in die Stimme. »Dann muss ich Sie nun bitten, mir zu folgen.«
Es war keine Bitte, eher ein Befehl, die Frau rauschte bereits aus
dem Zimmer. Nach der langen Zeit der Einsamkeit hatte ihr Eindringen auf Bernina
wie ein Überfall gewirkt, und sie konnte in ihrer Überraschung gar nicht
anders, als der forschen Frau nachzulaufen.
»Sicher haben Sie den Lärm gehört.« Die Dame bewegte sich trotz
ihrer ausladenden Figur schnell und behände.
»Nein«, antwortete Bernina leise, immer noch völlig überrascht.
»Nicht?« Die Stimme hüpfte noch ein wenig höher. »Das gibt’s doch
nicht. Den Knall müsste man doch noch im Himmelreich mitbekommen haben. Aber
wie dem auch sei …« Sie lief weiter den langen Flur hinab, Bernina im
Schlepptau. »Der Herr Oberst hat viel von Ihnen gesprochen, junge Dame, und
dabei etwas von Ihren heilenden Händen erwähnt.«
»Heilende Hände?«
Hintereinander überwanden sie eine breite marmorne Treppe, die ins
obere Stockwerk führte.
»Ja, der Oberst sagte, Sie hätten bei einem Arzt sehr viel
gelernt.«
»Ich weiß nicht so recht …«, entgegnete Bernina mit
ausweichendem Tonfall, nicht nur dieser Frau, sondern auch der ganzen
unerwarteten Situation mühsam folgend.
»Jetzt jedenfalls können Sie zeigen, ob er recht hatte. Ihre Hilfe
ist gefragt. Und bis wir hierher einen Arzt bekommen, vergeht zu viel
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