Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
zurückfuhr.
7. Kapitel
I n tiefe Gedanken versunken beobachtete Robert Audley von seinem Sitz in dem schäbigen Coupé der Postkutsche aus die trübselige Landschaft. Er überlegte, welch großes Blatt aus dem Buch seines Lebens gerissen worden war, nun, da George Talboys’ Geschichte ein Ende gefunden hatte. Eine Flut grauenhafter Gedanken schoss ihm durch den Kopf, als er an das Geständnis dachte, das er von den weißen Lippen Helen Talboys’ vernommen hatte. Sein Freund – sein ermordeter Freund – lag unter den modernden Trümmern des alten Brunnens in Audley Court begraben. Seit sechs langen Monaten lag er dort, verborgen in der Dunkelheit des alten Klosterbrunnens. Wut gegen diese hinterhältige Person stieg in ihm auf. Er hatte ihr eine Milde entgegengebracht, die sie nicht verdient hatte! Sie hätte dem Henker vorgeführt werden müssen!
Doch auch das wilde Gefühl der Wut verlor sich irgendwann auf seiner Reise zurück nach London und machte der Frage Platz, was als Nächstes zu tun sei. Eine Suche nach den Überresten des ermordeten Mannes in die Wege zu leiten, würde unumgänglich eine Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache zur Folge haben. Und würde eine solche Verhandlung stattfinden, dann wäre es beinahe unmöglich, die Geschichte von Myladys Verbrechen geheim zu halten, um Sir Michael zu schonen, wie Robert es wollte.
„Mein Gott“, entfuhr es Robert, als ihm das ganze Grauen der Situation bewusst wurde. „Muss mein Freund in seinem ungeweihten Grab bleiben, nur weil ich die Vergehen der Frau, die ihn ermordete, geheim halten muss?“ Ihm wurde klar, dass es keinen Ausweg aus dieser schwierigen Lage gab.
Als er bei Einbruch der Dämmerung des zweiten Tages in London ankam, fuhr er direkt zum Hotel Clarendon, wo Alicia und sein Onkel abgestiegen waren. Er musste Sir Michael, so schmerzlich es für alle Beteiligten auch sein würde, sagen, wo Lady Audley verblieben und welches letzte Geständnis von ihren Lippen gekommen war. Doch Mr Audley war es nicht beschieden, seiner Cousine oder seinen Onkel an diesem Abend zu sprechen. Wie die Dienstboten im Clarendon berichteten, waren Sir Michael und seine Tochter mit dem Morgenzug nach Paris abgefahren und auf dem Weg nach Wien.
Robert war erleichtert. Verschaffte es ihm doch einen willkommenen Aufschub. Er fuhr zum Temple, wo ihn drei Briefe in seinen Räumen im Fig Tree Court erwarteten. Einer war von Sir Michael, ein anderer von Alicia. Der dritte war in einer Handschrift adressiert, die der junge Advokat nur zu gut kannte, obwohl er sie erst einmal zuvor gesehen hatte. Beim Anblick dieser Schrift stieg ihm die Röte ins Gesicht. Liebevoll nahm er den Brief in die Hand, als spüre er durch das Papier hindurch eine zarte Berührung. Er betrachtete das Wappen auf dem Umschlag, den Poststempel, die Farbe des Papiers und steckte den Brief dann mit einem Lächeln in das Innere seiner Weste.
Was für ein Narr ich doch bin, dachte er. Da habe ich mein ganzes Leben lang über die Torheiten schwacher Männer gelacht, um mich schließlich lächerlicher als der Schwächste von ihnen zu benehmen!
Er öffnete zuerst die anderen beiden Briefe. In ihrem Brief teilte Alicia ihm mit, dass Sir Michael seinen Kummer mit derart standhafter Ruhe hingenommen habe, dass sie durch diese beharrliche Ruhe schließlich weit mehr beunruhigt worden sei, als es ein stürmischer Verzweiflungsausbruch vermocht hätte. Sie habe daraufhin Roberts Ratschlag befolgt und ihre alte Herrschaft als verwöhntes Kind wieder angetreten. Alicia hatte ihren Vater an ein früher gegebenes Versprechen erinnert, mit ihr durch Deutschland zu reisen. Mit beträchtlicher Mühe hatte sie ihn dazu bewegen können, dieses alte Versprechen einzulösen. Und nachdem dieser Sieg einmal errungen war, hatte sie darauf gedrungen, dass sie England sofort verlassen sollten, um noch einen Abstecher über Wien und Paris zu machen.
Der Brief des Barons jedoch war kurz. Er enthielt ein halbes Dutzend unausgefüllter Zahlungsanweisungen, die bei Sir Michael Audleys Bankiers einzulösen waren. „Du wirst Geld brauchen, mein lieber Robert“, schrieb er, „für jene Vorkehrungen, die du für das zukünftige Wohlergehen der Person, die ich deiner Obhut überantwortet habe, für geeignet erachtest. Ich möchte nicht über die Art der Maßnahmen unterrichtet werden, die du für sie zu treffen gedenkst.“
Robert stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus, als
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