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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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ganzen Angelegenheit sei.
    „Ich habe Ihnen schon gesagt, Dr Mosgrave, dass ich es nicht weiß.“
    „Ja“, erwiderte der Arzt, „aber Ihr Gesicht hat mir ­verraten, was Sie mir vorenthalten wollten. Es hat mir verraten, dass Sie einen Verdacht hegen.“ Robert ­Audley schwieg. „Wenn ich Ihnen von Nutzen sein soll, dann ­müssen Sie mir vertrauen, Mr Audley“, fuhr der Arzt fort.
    Robert zögerte eine Weile, ehe er antwortete. Doch schließlich hob er den Kopf, den er in einer Haltung ernsthaften Nachdenkens gesenkt hatte und erzählte die Geschichte von Georges Verschwinden und sprach über seine eigenen Zweifel und Befürchtungen – der Himmel weiß, wie widerwillig er es tat. Nachdem Robert seine Rede beendet hatte, erhob sich der Arzt und sah erneut auf die Uhr. Es war unmöglich, aus Dr Mosgraves aufmerk­samer Miene irgendeinen Schluss zu ziehen, sei er nun günstig oder nicht.
    „Ich kann nur noch zwanzig Minuten für Sie erübrigen“, meinte der Arzt. „Ich werde die Dame jetzt auf­suchen, wenn Sie wollen.“
    Robert läutete und ließ Myladys Zofe kommen, die den Doktor zu Mylady bringen sollte.
    Bereits zehn Minuten später kehrte der Mann in die ­Bibliothek zurück, in der Robert auf ihn gewartet hatte. „Ich habe mit der Dame gesprochen“, bemerkte er ruhig. „Es handelt sich hier günstigstenfalls um latenten Wahnsinns. Wahnsinn, der vielleicht niemals oder nur ein- oder zweimal im Leben zutage tritt. Die Dame ist nicht ­wahnsinnig, aber die Veranlagung dazu ist nicht auszuschließen. Bei ihr verbindet sich die Verschlagenheit des Wahnsinns mit der Vorsicht der Intelligenz. Ich will Ihnen sagen, was sie ist, Mr Audley: Sie ist gefährlich!“
    Lange sah Doktor Mosgrave Robert an. Dann setzte er sich an einen Schreibtisch in der Nähe des Fensters, tauchte die Feder in die Tinte und begann zu schreiben. Robert, wie vom Donner gerührt, bewegte sich keinen Inch. Der Arzt hatte drei Bogen Briefpapier beschrieben, als er schließlich die Feder niederlegte und den Brief ­faltete. Er steckte den Brief in einen Umschlag und reichte diesen unversiegelt an Robert Audley weiter. Die Adresse auf dem Umschlag lautete: „Monsieur Val, Villebrumeuse, Belgien.“
    „Dieser Brief“, erklärte der Arzt als Antwort auf Robert Audleys fragenden Blick, „ist an meinen Freund ­Monsieur Val gerichtet, den Besitzer und ärztlichen Leiter einer ganz ausgezeichneten Heilanstalt in Villebrumeuse. Wir kennen einander seit vielen Jahren. Er wird zweifellos bereit sein, Lady Audley in seiner Anstalt aufzunehmen und die volle Verantwortung für ihr zukünftiges Leben zu tragen, ­welches allerdings anders sein wird als bisher.“
    Robert Audley wollte sprechen. Er wollte noch einmal seinen Dank zum Ausdruck bringen für die Hilfe, die man ihm gewährt hatte, doch Dr Mosgrave hinderte ihn mit einer gebieterischen Geste daran. „Von dem Moment an, da Lady Audley jenes Haus betritt“, sagte er, „wird ihr Leben beendet sein. Welche Geheimnisse sie auch haben mag, es werden für immer Geheimnisse bleiben. Welche ­Verbrechen sie auch begangen haben mag, sie wird keine weiteren mehr begehen können. Würden Sie auf dem nächsten Friedhof ein Grab für sie ausheben und sie darin lebendigen Leibes begraben, so könnten Sie die Dame nicht sicherer von der Welt und allen weltlichen Dingen abschließen. Als Arzt und aufrichtiger Mensch meine ich jedoch, dass Sie der Gesellschaft keinen besseren Dienst erweisen können als gerade mit einem solchen Vorgehen. – Hätte die Frau, mit der ich eben gesprochen habe, mir an die Kehle springen können, so hätte sie es getan.“

6. Kapitel

    E s war spät am Nachmittag, als die Postkutsche ­holpernd über das unebene Pflaster der Hauptstraße von Villebrumeuse ratterte. Die in langen Abständen auftauchenden, flackernden Laternen verbreiteten nur einen schwachen Schein und ließen den Ort eher dunkler als heller erscheinen. Die entlegene belgische Stadt war ein vergessener, altertümlicher Ort und legte mit jeder Fassade in den engen Straßen, jedem baufälligen Dach und jedem altersschwachen Kamin das trübselige Zeugnis allgemeinen Verfalls ab.
    Mylady hatte während der ganzen Fahrt von England kein Wort gesagt, außer einmal, als sie die Erfrischung ablehnte, die Robert ihr an einer Raststation auf der Strecke angeboten hatte.
    Als die Kutsche nun polternd in einen großen, mit ­Steinen gepflasterten viereckigen Hof einfuhr, blickte Mylady erschrocken auf. Früher

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