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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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angekommen sei. Georges Gesicht wurde bleich. „Talboys“, betonte er. „George Talboys. Vielleicht haben Sie den Namen nicht deutlich verstanden. Bitte sehen Sie noch einmal nach. Es muss ein Brief hier sein.“
    Kurz darauf kam der Kellner zurück, um mitzuteilen, dass kein Brief mit dem Namen Talboys eingegangen sei. Brown, Saunderson und Pinchbeck seien da, aber keiner für ihn. Schweigend trank der junge Mann sein Soda­wasser. Etwas in seiner Haltung verriet Robert Audley, dass diese scheinbar so unbedeutende Enttäuschung für seinen Freund in Wirklichkeit eine sehr bittere war. Er wagte es jedoch nicht, das Wort an ihn zu richten.
    Nach einer Weile sah George auf. Gedankenverloren nahm er von einem Stoß Zeitungen, die auf dem Tisch lagen, eine abgegriffene Ausgabe der Times vom Vortag. Desinteressiert blätterte er die Seiten um, doch als er sie wieder zusammenlegen wollte, starrte er plötzlich auf eine der Spalten auf Seite eins.
    Ich kann nicht sagen, wie lange er dort so saß und leeren Blickes auf diesen einen Absatz in der Spalte mit den Todesanzeigen starrte. Irgendwann nahm sein betäubter Verstand die volle Bedeutung der Zeilen auf. Er schob Robert ­Audley die Zeitung mit kalkgrauer Blässe zu und deutete auf eine Zeile: „Am 24. dieses Monats starb in Ventnor auf der Isle of Wight Helen Talboys im Alter von zweiundzwanzig Jahren.“

    Hilflos saß George Talboys auf seinem Stuhl und blickte fragend in das Gesicht seines Freundes.
    Der heiße Augustsonnenschein, die staubigen Fenster und die ausgeblichenen bunten Vorhänge, die schmutzigen Theaterzettel an den Wänden, der blankgefegte Kamin, ein kahlköpfiger alter Mann, der über ­seinem Morning Adviser eingenickt war, der Kellner, der ein heruntergefallenes Tischtuch zusammenfaltete, und Robert Audley, der ihm voll Bestürzung entgegenblickte.
    George Talboys spürte, wie all diese Dinge in seinem Bewusstsein in übergroßen Dimensionen in den Vordergrund traten, um sich dann nach und nach in dunkle Flecken zu verwandeln, die vor seinen Augen verschwammen. Ein dröhnendes Geräusch, so als tobten und stampften ein halbes Dutzend wütender Dampfmaschinen in seinen Ohren, erfüllte seinen Kopf.
    Und dann nahm er nichts mehr wahr, außer, dass irgendetwas schwer zu Boden stürzte.

    Der Abend war schon fortgeschritten, als George ­Talboys seine Augen in einem kühlen, dämmrigen Raum ­wieder öffnete. Die Stille wurde nur durch das Rattern von Rädern in der Ferne durchbrochen. Robert Audley saß an ­seiner Seite und rauchte eine Pfeife. Er selbst lag auf einer ­niedrigen Bettstatt gegenüber einem offenen ­Fenster. Auf der Fensterbank stand ein Vogelkäfig mit zwei Vögeln darin. Eine Zeit lang lag George schweigend da und betrachtete den Käfig. „Bob, wo sind wir?“, erkundigte er sich.
    „In meinen Räumen, mein lieber Junge, im Temple. Da du keine eigene Unterkunft hast, kannst du ebenso gut bei mir wohnen, solange du in der Stadt bist.“
    George fuhr sich mit der Hand über die Stirn und fragte zögernd: „Diese Zeitung heute Morgen, Bob. Was war da?“
    „Denke nicht daran, alter Junge.“
    Plötzlich richtete sich George im Bett auf und starrte wie irr umher. „Ich erinnere mich wieder an alles! Helen, meine Helen! Tot!“
    „George“, Robert Audley legte seine Hand auf den Arm des jungen Mannes. „Vielleicht gab es noch eine zweite Helen Talboys.“
    „Nein, nein“, entgegnete George heftig. „Das Alter stimmt, und Talboys ist ein so seltener Name.“
    „Es kann aber auch ein Druckfehler gewesen sein und sollte eigentlich Talbot heißen.“
    „Nein! Meine Frau ist tot!“ Er schüttelte Roberts Hand ab, erhob sich vom Bett und lief zur Tür.
    „Wohin gehst du?“, rief sein Freund ihm nach, wobei er von seinem Stuhl aufsprang.
    „Nach Ventnor! Ich will ihr Grab sehen.“
    „Aber nicht heute Abend, George! Es ist zu spät. Wir fahren gleich morgen früh mit dem ersten Zug. Ich werde dich begleiten.“ Vorsichtig führte Robert den jungen Mann wieder zum Bett zurück und brachte ihn mit sanfter Gewalt dazu, sich endlich niederzulegen. Irgendwann fiel George Talboys in einen unruhigen Schlaf.

5. Kapitel

    A m nächsten Morgen saßen er und Robert Audley in einem Waggon des Expresszuges, der in Richtung Portsmouth eilte. Unter der sengenden Hitze der Mittagssonne fuhren sie von Ryde weiter nach Ventnor. Als die beiden jungen Männer endlich am Ziel angekommen waren und aus der Postkutsche stiegen, starrten die

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