Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Leute Georges bleiches, unrasiertes Gesicht an.
„Was sollen wir nun tun, George?“, fragte Robert Audley. „Wir haben keinerlei Hinweis, wo wir die Leute, die du aufsuchen willst, finden können.“
Mit einem verwirrten Ausdruck in den Augen schaute der junge Mann ihn nur an. Der große Offizier wirkte
hilflos wie ein Kind. Und so sah sich Robert Audley, einer der unschlüssigsten Menschen ohne jegliche Tatkraft, unversehens dazu aufgerufen, für einen anderen Menschen eine
Entscheidung zu treffen. Erstaunlicherweise zeigte er sich der Lage durchaus gewachsen. „Am besten wäre es, wir fragten in einem der Hotels nach einer Mrs Talboys, George. Vielleicht kennt jemand die Familie. Sie wird ja sicherlich nicht allein an diesem Ort gewohnt haben.“
„Der Name ihres Vaters ist Maldon“, murmelte George. „Er würde sie niemals allein hergeschickt haben.“
Robert lenkte seine Schritte geradewegs zu einem Hotel, wo er sich nach einem Mr Maldon erkundigte.
„Ja“, antwortete man ihm, es gäbe einen Herrn dieses Namens in Ventnor, einen Kapitän Maldon. Der Kellner werde sogleich die Adresse in Erfahrung bringen. Mit eigenartigem Ausdruck in seinem Gesicht lehnte George Talboys unterdessen an einem Türposten und starrte vor sich hin. Nach ungefähr fünf Minuten kam der Kellner mit der Auskunft zurück, dass Kapitän Maldon in den Landsdowne Cottages, No. 4, logiere.
Sie fanden das Haus ohne Schwierigkeiten. Es war ein heruntergekommenes Sommerhäuschen mit zwei Eckfenstern, die auf das Meer hinausblickten. Sie erkundigten sich, ob Kapitän Maldon zu Hause sei.
„Nein“, antwortete die Hauswirtin. Kapitän Maldon sei mit seinem Enkelsohn zum Strand gegangen. Wollten die Herren nicht eintreten und eine Weile Platz nehmen? Sie folgten der Frau in das kleine Wohnzimmer, das die Vorderseite des Hauses einnahm. Es war ein staubiger Raum, schäbig eingerichtet und in unordentlichem Zustand. Das zerbrochene Spielzeug eines Kindes war auf dem Fußboden verstreut, und der Geruch von abgestandenem Tabakrauch hing in den Vorhängen an den Fenstern.
Ruhelos wanderte George im Zimmer hin und her, wobei er die herumliegenden Gegenstände betrachtete und sie bisweilen berührte. Da war Helens Nähkasten mit einer angefangenen Nadelarbeit, ihr Album mit den Zitaten von Byron und Moore, die er ihr gegeben hatte. Nach beinahe einer halben Stunde des Schweigens sagte er dann: „Ich würde gerne die Wirtin sehen. Ich möchte sie fragen ...“ Mitten im Satz brach er ab und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Robert holte die Frau des Hauses. Sie war eine geschwätzige Person, der Krankheit und Tod nicht fremd waren. Ausführlich berichtete sie ihnen von den letzten Stunden von Mrs Talboys. Die junge Frau sei nur kurze Zeit vor ihrem Tod, als es offensichtlich schon dem Ende zuging, nach Ventnor gekommen.
„Ist der Herr ein Verwandter?“, wollte sie von Robert Audley wissen.
„Ja, er ist der Ehemann der verstorbenen Dame.“
„Was!“, rief die Frau empört aus. „Derjenige, der sie so grausam im Stich gelassen und sie und den hübschen kleinen Jungen dem armen alten Vater aufgebürdet hat, wie Kapitän Maldon mir des Öfteren mit Tränen in seinen traurigen Augen erzählt hat.“
„Ich habe sie nicht im Stich gelassen!“, entfuhr es George, doch er fasste sich schnell. „Sprach sie von mir?“, wollte er von der Frau wissen.
„Nein. Sie ging so friedlich und still wie ein Lamm dahin. Am Ende erkannte sie niemanden mehr, nicht einmal ihren kleinen Jungen oder ihren armen alten Vater, den das hart traf.“
Die Frau führte George und Robert in den kleinen Schlafraum, in dem die junge Frau gestorben war. George kniete vor dem Bett nieder und küsste voll Zärtlichkeit das Kopfkissen, woraufhin die Wirtin ergriffen mit den Tränen kämpfte. Während er dort kniete und, das Gesicht tief im schlichten schneeweißen Kissen vergraben, vielleicht ein Gebet sprach, nahm die Frau einen Gegenstand aus einer Schublade. Und als er sich endlich von seinen Knien erhob, überreichte sie ihm diesen. Es war eine lange Haarsträhne, in silberfarbenes Papier verpackt.
„Ich habe das Haar abgeschnitten, als sie in ihrem Sarg lag“, erklärte sie. „Die arme Seele!“ George presste die weiche Haarsträhne an seine Lippen.
„Wenn Sie sehen wollen, wo man sie begraben hat, Mr Talboys, dann kann mein Sohn Ihnen den Weg zum Friedhof zeigen.“
Und so wanderten George Talboys und
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