Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
sein Freund zu dem stillen Ort, wo unter einem Erdhügel die Frau lag, von deren willkommen heißendem Lächeln George an den fernen Antipoden so oft geträumt hatte.
Robert ließ den jungen Mann neben dem Grab allein. Als er nach einer Viertelstunde zu seinem Freund zurückkehrte, fand er ihn noch immer an der gleichen Stelle vor. George sagte gefasst, er wolle einem Steinmetz den Auftrag erteilen, einen würdigen Grabstein für Helen aufzustellen.
6. Kapitel
Z um Cottage zurückgekehrt, erfuhren die beiden jungen Männer, dass der alte Herr noch immer nicht nach Hause gekommen sei. Und so gingen sie hinunter zum Strand, um nach ihm Ausschau zu halten. Nach kurzer Suche fanden sie ihn.
Er saß auf einem Haufen Steine und las die Zeitung. In einiger Entfernung von ihm war der kleine Junge damit beschäftigt, mit einem hölzernen Spaten im Sand zu graben. Der Anblick des Trauerflors am fadenscheinigen Hut des alten Mannes und des armseligen, kleinen schwarzen Kittels des Kindes schnitt George ins Herz.
„Mr Maldon“, sagte George, als sie den alten Herrn erreicht hatten.
Der Alte blickte auf. Dann ließ er die Zeitung sinken und erhob sich mit feierlicher Verbeugung. Über seiner hochgeknöpften Weste baumelte ein Monokel. Sein Haar war mit grauen Fäden durchzogen, er hatte eine scharfe Hakennase, wässrige blaue Augen und einen unentschlossenen Zug um den Mund. Seinen schäbigen, abgetragenen Anzug trug er mit dem affektierten Gehabe eines vornehmen Stutzers. Fragend blickte er die beiden Männer an.
„Mein Gott! Erkennen Sie mich nicht?“, rief George.
Mr Maldon zuckte zusammen. Die Röte schoss ihm ins Gesicht, und ein erschreckter Ausdruck trat in seine Augen, als er seinen Schwiegersohn erkannte. „Mein Junge“, rief er. „Ich habe Sie wirklich nicht erkannt. Dieser Bart verändert Sie so. Der Bart macht einen großen Unterschied, finden Sie nicht auch, mein Herr?“ Er wandte sich an Robert.
„Du lieber Himmel!“, entrüstete sich George Talboys. „Ist das Ihr Empfang? Ich komme nach England und erfahre, dass meine Frau gestorben sei, und Sie plappern von meinem Bart!“
„Es ist leider nur zu wahr, ein fürchterlicher Schlag, mein lieber George. Wenn Sie nur eine Woche früher hier gewesen wären“, murmelte der alte Mann und rieb sich seine Augen.
Robert beobachtete den Alten aufmerksam. Aus irgendeinem Grund schien der Mann Angst vor George zu haben.
Während der erregte junge Mann, erfüllt von Trauer und Verzweiflung, rastlos auf und ab wanderte, kam das Kind zu seinem Großvater gelaufen und hängte sich an seine Rockschöße. „Gehen wir nach Hause, Großpapa, lass uns nach Hause gehen“, sagte es. „Ich bin müde.“
Beim Klang der kindlichen Stimme drehte George Talboys sich um und betrachtete den Jungen. Der Kleine hatte die braunen Augen und das dunkle Haar seines Vaters. „Mein Liebling!“, rief George aus und nahm das Kind in seine Arme. „Ich bin dein Vater. Ich bin über das weite Meer gekommen, um dich zu sehen.“
Das kleine Kerlchen stieß ihn von sich. „Ich kenne Sie nicht“, rief er.
„Georgey ist etwas eigenwillig, mein Herr“, erklärte der Alte. Unglücklich ließ George das Kind auf den Boden zurück.
Gemeinsam begaben sie sich zum Haus zurück, und Talboys erwähnte die zwanzigtausend Pfund, die er bei einer Bank eingezahlt hatte. Er brachte er es nicht übers Herz, Fragen über Helen zu stellen. Sein Schwiegervater berichtete auch nur, dass sie wenige Monate nach Georges Weggang nach Southampton übersiedelt seien. Dort habe Helen einige Klavierschüler gefunden, und es sei ihnen recht gut ergangen, bis ihre Gesundheit zu sehr angegriffen gewesen sei. Schließlich sei sie in Siechtum verfallen und dann gestorben. Wie die meisten traurigen Geschichten war auch diese sehr kurz.
„Der Junge scheint Sie gern zu mögen, Mr Maldon“, bemerkte George nach einer Weile.
„Ja“, antwortete der alte Mann und strich über das lockige Haar des Kindes. „Georgey hat seinen Großvater sehr gern.“
„Dann lebt er auch weiterhin am besten bei Ihnen. Die Zinsen für mein angelegtes Geld belaufen sich auf etwa sechshundert Pfund im Jahr. Davon können Sie hundert Pfund für Georgeys Erziehung abheben. Der Rest bleibt auf der Bank bis zu seiner Mündigkeit. Mein Freund hier wird der Vermögensverwalter sein und ich möchte ihn auch zum Vormund des Jungen bestellen, wenn er sich dazu bereit erklärt, diese Aufgabe zu
Weitere Kostenlose Bücher