Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
übernehmen.“ Er blickte Robert Audley an, der nicht anders konnte, als ein vages Nicken anzudeuten. „Ich bin jedoch damit einverstanden, dass Georgey vorläufig unter Ihrer Obhut verbleibt, Mr Maldon.“
Robert bemerkte, wie die trüben Augen des Alten aufmerksam funkelten, als George seinen Entschluss verkündete. „Aber warum kümmerst du dich nicht selbst um ihn?“, fragte Robert, dem nicht im Geringsten der Sinn nach Verantwortung für ein Kind stand.
„Weil ich mit dem nächsten Schiff, das Liverpool in Richtung Australien verlässt, wieder fortsegeln werde. Ich werde mich beim Schürfen wohler fühlen, als es hier der Fall sein könnte. Von dieser Stunde an tauge ich einfach nicht mehr für ein zivilisiertes Leben, Bob.“
„Mein armer Junge, ich glaube, Sie haben recht“, warf der Alte ein. „Ich glaube wirklich, Sie tun recht daran. Die Veränderung, das abenteuerliche Leben, das ...“
Er zögerte und verstummte dann ganz, als Robert ihn forschend ansah. „Ich finde, Sie haben es sehr eilig, Ihren Schwiegersohn loszuwerden, Mr Maldon“, meinte er mit ernster Miene.
„Ihn loswerden! Den lieben Jungen! Oh nein! Aber um seinetwillen, mein werter Herr, um seinetwillen, wissen Sie.“
Robert schüttelte den Kopf. „Ich dagegen bin der Meinung, um seinetwillen bliebe er besser in England und kümmerte sich um seinen Sohn.“
„Aber ich sage dir doch, ich kann es nicht!“, rief George. „Jeder Zentimeter dieses verfluchten Bodens ist mir verhasst. Ich möchte schnell weg von hier. Noch heute Abend fahre ich in die Stadt zurück, regle die Geldangelegenheiten und breche dann unverzüglich nach Liverpool auf, um abzureisen. Es wird mir erst besser gehen, wenn ich die halbe Welt zwischen mir und Helens Grab weiß.“
Bevor die beiden Männer das Haus verließen, suchte George noch einmal die Wirtin auf und stellte ihr weitere Fragen über seine verstorbene Frau. „Hatten sie Geldsorgen?“
„Oh, nein!“, erwiderte die Frau. „Obwohl der Kapitän so abgetragene Kleider trägt, hat er doch Goldstücke in Hülle und Fülle in seiner Tasche. Der armen Dame hat es an nichts gefehlt.“
George war erleichtert, das zu hören, obgleich er sich wunderte, wie der ständig betrunkene Mann es geschafft haben sollte, genügend Geld für all die Ausgaben während der Krankheit seiner Tochter aufzutreiben.
Das Unglück aber hatte ihn so sehr gebrochen, dass er nicht gründlich über irgendwelche Dinge nachdenken konnte. Und so fragte er nicht weiter, sondern begab sich mit seinem Schwiegervater und Robert Audley vor das Haus. Der alte Mann verabschiedete sich mit ausgesuchter Höflichkeit.
Das Dokument, das Robert Audley zum Vormund des kleinen George Talboys bestellte, wurde am folgenden Morgen im Büro eines Anwalts abgefasst.
„Ich, der Vormund von irgendjemand oder irgendetwas!“, überlegte Robert Audley murmelnd. „Ich, der ich in meinem ganzen Leben nie auf mich selbst aufpassen konnte!“
„Ich vertraue deinem edlen Herzen, Bob“, gab George zur Antwort. „Ich weiß, du wirst für meinen Jungen sorgen und darauf achten, dass er von seinem Großvater gut behandelt wird.“
Doch es hatte den Anschein, als sei George dazu bestimmt, noch länger im Land zu bleiben, als ihm lieb war. Gerade erst war ein Schiff nach Australien losgesegelt und während des nächsten Monats würde kein weiteres in See stechen. Und so musste George noch einmal Robert Audleys Gastfreundschaft in Anspruch nehmen.
Von morgens bis abends saß er im Fig Tree Court, starrte auf die Kanarienvögel und haderte mit der Zeit. Sie solle schneller vergehen, auf dass er endlich fort-
könne.
Als aber die Stunde der Abfahrt des Schiffes schon nahe gerückt war, kam Robert Audley eines Tages nach Hause, ganz erfüllt von einem großen Plan. Einer seiner Freunde wollte den Winter in St. Petersburg verbringen und erbat sich Roberts Begleitung. Robert jedoch wollte die Reise nur unter der Bedingung antreten, dass auch sein trauriger Freund George mitkomme.
Lange Zeit widersetzte sich der junge Mann diesem Ansinnen. Doch Robert war fest entschlossen. Und so gab George Talboys nach und willigte ein, sich der Gesellschaft anzuschließen.
„Was macht es schon“, meinte er gleichgültig. „Ein Ort ist für mich so gut wie jeder andere. Es muss nur irgendwo in weiter Ferne sein, egal wo.“
Bevor Robert England verließ, schrieb er noch einen Brief an seine Cousine Alicia. Darin berichtete er ihr von
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