Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Anwalts gegenüber weltlichen Dingen ihn im Stich. Robert Audley hatte einige Mühe, seine Ungeduld im Zaum zu halten.
Plötzlich jedoch kam ihm ein Gedanke, und er ließ seine Besitztümer stehen, um zur anderen Seite des Bahnhofes zu eilen. Er hatte eine Glocke läuten hören und sich nach einem Blick auf die Uhr daran erinnert, dass der Gegenzug Richtung Colchester zu dieser Zeit abfahren musste. Er erreichte den gegenüberliegenden Bahnsteig rechtzeitig, um die Fahrgäste ihre Plätze einnehmen zu sehen.
Soeben kam eine Dame am Bahnhof an. Sie eilte genau in dem Moment, da Robert sich dem Zug näherte, auf den Bahnsteig und stieß mit ihm zusammen.
„Verzeihen Sie ...“, entschuldigte sie sich höflich. Nachdem sie jedoch ihre Augen von Mr Audleys Weste, die sich ungefähr auf der Höhe ihres hübschen Gesichtes befand, nach oben gerichtet hatte, erschrak sie für einen kurzen Moment.
„Robert! Sie schon in London?“
„Ja, Lady Audley, Sie hatten ganz recht. Das Castle Inn ist wirklich ein zu düsterer Ort und ...“
„Sie sind des Castle Inn überdrüssig geworden. Ich wusste, dass es so kommen würde. – Bitte öffnen Sie die Waggontür für mich. Der Zug wird in zwei Minuten abfahren.“
Mit einem etwas verwirrten Blick betrachtete Robert die Frau seines Onkels. Sie schien ein ganz und gar anderer Mensch zu sein als jenes hilflose Wesen, das er erst vor wenigen Stunden in dem kleinen Zimmer in Mount Stanning gesehen hatte. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen, öffnete er ihr die Tür. Er half ihr zu ihrem Sitz, breitete den Pelz über ihren Knien aus und ordnete den gewaltigen Samtmantel.
„Ich danke Ihnen sehr, Mr Audley. Wie freundlich Sie zu mir sind“, bemerkte sie lächelnd. „Sie werden mich für sehr töricht halten, dass ich an einem solchen Tag reise – und dann auch noch ohne das Wissen meines guten Liebsten. Doch ich bin in die Stadt gefahren, um eine entsetzlich hohe Schneiderrechnung zu begleichen, von der ich nicht wollte, dass mein bester aller Ehemänner sie sieht. Obwohl er so großzügig ist, könnte er mich doch für extravagant halten. Und ich ertrage es nicht, auch nur in seinen Gedanken Schaden zu leiden.“
„Der Himmel verhüte, dass Ihnen das je widerfahre, Lady Audley“, antwortete Robert. Für einen kurzen Moment sah sie ihn mit einem Lächeln an, das in seiner strahlenden Lebhaftigkeit etwas Herausforderndes enthielt.
„Der Himmel bewahre mich in der Tat davor“, murmelte sie. „Ich denke aber nicht, dass das jemals geschehen wird.“
Die zweite Glocke ertönte und der Zug setzte sich in Bewegung. Das Letzte, was Robert Audley von ihr sah, war dieses eigentümliche, herausfordernde Lächeln.
Was immer sie auch nach London geführt haben mag, es war von Erfolg gekrönt, überlegte er.
Robert Audley war noch immer in Gedanken mit Lady Audleys überstürzter Reise nach London beschäftigt, als er im Fig Tree Court die Treppe hinaufstieg. Er fand seine Räume in der gewohnten Ordnung vor. Die Geranien waren sorgfältig gegossen worden und die Kanarienvögel hatten sich unter dem Schutz eines grünen Friestuches für die Nacht zurückgezogen, was auf die Fürsorge der ehrenwerten Mrs Maloney hinwies.
Flüchtig blickte er sich im Wohnzimmer um. Dann ging er in jene kleine Kammer, die ihm als Ankleideraum diente. In dieser Kammer bewahrte er ausgediente Reisesäcke, beschädigte japanische Lackkästchen und andere unnütze Dinge auf. Und in dieser Kammer hatte auch George Talboys sein Gepäck abgestellt. Robert hob einen Mantelsack in die Höhe, der auf dem Deckel einer großen Reisekiste lag. Mit einer Kerze in der Hand kniete er vor dieser Kiste nieder und untersuchte sorgsam das Schloss.
Es schien unbeschädigt zu sein. Robert wischte mit seinem Jackenärmel über den abgeschabten, lederbezogenen Deckel, auf dem mit großen Nagelköpfen aus Messing die Initialen G. T. eingraviert waren. Doch Mrs Maloney musste die reinlichste aller Hausfrauen sein, denn weder der Mantelsack noch die Reisekiste waren mit Staub bedeckt. Er blickte sich um. Die anderen Dinge im Raum jedoch trugen eine leichte Staubschicht, wie man es in einer solchen Kammer erwarten würde.
Mr Audley sandte daraufhin einen Jungen zu seiner irischen Aufwartefrau, um sie herbeizuholen. Während er auf ihr Kommen wartete, wanderte er unruhig im Wohnzimmer auf und ab.
Nach etwa zehn Minuten erschien sie und verlieh ihrer Freude über die Heimkehr des Herrn
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