Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
anderen Hand entwendet worden waren, ließ sich schwer feststellen. Tatsache war jedenfalls: Sie waren nicht mehr vorhanden.
Robert Audley seufzte müde, während er die Gegenstände zurück in die leere Kiste legte. Einen kleinen Stoß auseinanderfallender Bücher hielt er jedoch noch in Händen. Er zögerte einen Augenblick. Einer Eingebung folgend, legte er die Bücher nicht zurück. Er verschloss die Reisekiste und klemmte sich die Bücher unter den Arm.
Als er in das Wohnzimmer zurückkam, war Mrs Maloney gerade damit beschäftigt, die Reste seiner Mahlzeit abzuräumen. Er legte die Bücher auf den kleinen Tisch in der Ecke beim Kamin und wartete geduldig, bis die Aufwartefrau ihre Arbeit beenden würde.
Mit einem Gefühl innerer Müdigkeit beobachtete er Mrs Maloney, wie sie die Asche im Kamin zusammenkehrte, das Feuer neu schürte, die dunklen Damastvorhänge zuzog, die Kanarienvögel versorgte und schließlich ihre Haube aufsetzte und ihrem Dienstherrn eine gute Nacht wünschte. Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, erhob sich Robert von seinem Stuhl und wanderte im Zimmer auf und ab.
Warum verfolge ich diese Sache überhaupt noch?, fragte er sich. Ich weiß doch, dass sie mich Schritt für Schritt jener Schlussfolgerung näher bringt, die ich vor allem meiden sollte. Sollte ich recht haben, wird diese Angelegenheit meinen Onkel in schwerste Seelennot bringen. – Könnte ich nicht heute Abend hier sitzen und sagen: „Ich habe meiner Pflicht gegenüber meinem Freund Genüge getan und habe nach ihm gesucht. Doch leider vergebens.“ Ja, bin ich denn überhaupt verpflichtet herauszufinden, wo George ist? Ob er noch lebt oder ob er tot ist?
So in Zweifel mit sich und dem vor ihm liegenden Weg, stützte Robert Audley die Ellenbogen auf seine Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. An diesem Abend, da er so allein bei seinem Kamin saß und an George Talboys dachte, sprach er vielleicht sein erstes, wirklich tief empfundenes Gebet.
Als er nach langer und stummer Versunkenheit schließlich den Kopf aufrichtete, sah er die Dinge anders. Er hatte einen Entschluss gefasst. „Zuerst Gerechtigkeit für die Toten“, sprach er leise zu sich, „und danach Gnade für die Lebenden.“
Er schob seinen Lehnstuhl zum Tisch und schickte sich an, Georges Bücher genauer zu untersuchen. Talboys’ Bibliothek bestand aus keiner besonders großartigen Sammlung literarischer Werke. Da waren eine alte griechische Bibel, die Lateingrammatik von Eton, eine französische Abhandlung über Fechtübungen für Kavallerieoffiziere und ein dickes Buch in einem verschlossenen goldfarbenen und roten Umschlag. Er nahm die Bücher nacheinander auf und sah sie sorgfältig durch. Zuerst schaute er auf jene Seite, auf der für gewöhnlich der Name des Besitzers steht. Danach machte er sich auf die Suche nach einem Stück Papier, das zwischen den Seiten vergessen worden sein konnte. Auf der ersten Seite der Lateingrammatik von Eton war der Name „Master Talboys“ von penibler Gelehrtenhand aufgeschrieben worden. Auf dem Umschlag der französischen Abhandlung fand er die Buchstaben G. T. nachlässig hingeworfen in Georges großer, unregelmäßiger Handschrift. Ein Band, „Tom Jones“, war offensichtlich an einem Bücherstand erworben worden und enthielt eine Widmung vom 14. März 1788, die das Buch als Gabe zum Zeichen der Verehrung für Mr Thomas Scrowton von seinem gehorsamen Diener James Anderley kenntlich machte. Byrons „Don Juan“ und die Bibel waren ohne Eintragung. Robert Audley war bis zum letzten Buch vorgedrungen, ohne auf irgendeinen Hinweis gestoßen zu sein. Er musste nun nur noch das dicke gold-rot gebundene Buch durchblättern, und seine Aufgabe war beendet.
Es war ein Jahrbuch von 1845. Die Kupferstiche mit den lieblichen Damen, die in jenen Tagen in Mode gewesen waren, hatten inzwischen Stockflecken und waren vergilbt. Die Kostüme dieser Damen sahen fremdartig aus, die geziert lächelnden Schönheiten verwelkt und gewöhnlich. Auch die eingestreuten kleinen Gedichte wirkten wie aus einer anderen Zeit. Robert Audley hielt sich nicht damit auf, eine dieser harmlosen Schöpfungen zu lesen. Auf der Suche nach einem Fetzen Papier oder dem Teil eines Briefes, die zur Markierung einer Seite benutzt worden sein mochten, ging er das Buch durch. Er fand nichts außer einer hell goldenen Locke von jenem schimmernden Farbton, der nur selten zu sehen ist und den
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