Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
sind. Dann werde ich alles unternehmen, was in meiner Macht steht, um George Talboys zu finden.“
„Was meinen Sie damit?“
„Nun, Lady Audley, ich bin überzeugt, dass wir uns im Dunstkreis eines Verbrechens bewegen können und dennoch um nichts weniger frei atmen. Ich glaube, dass wir in das lächelnde Gesicht eines Mörders schauen können und dennoch die gelassene Schönheit dieses Gesichtes bewundern.“
Mylady lachte über Roberts Gedanken. „Sie hätten Detektiv oder Dichter werden sollen“, meinte sie spöttisch.
„Manchmal denke ich, dass ich ein guter Detektiv geworden wäre.“
„Ach ja. Warum?“
„Weil ich Geduld habe.“
Sie zuckte scheinbar gleichgütig mit den Schultern. „Aber um auf Mr George Talboys zurückzukommen. Was bedeutet es, wenn Sie keine Antwort auf Ihre Anzeige erhalten?“
„Dann fühle ich mich zu der Schlussfolgerung berechtigt, dass mein Freund tot ist. Ich werde seine Habseligkeiten durchsuchen, die er in meinen Räumen zurückgelassen hat, in der Hoffnung, Hinweise zu finden, die mich seinem Mörder näher bringen werden.“
„Tatsächlich!“ Sie lachte auf. „Und was könnten das für Dinge sein? Mäntel, Westen, polierte Stiefel und Meerschaumpfeifen, nehme ich an.“
„Nein, Briefe. Briefe von seinen Freunden, den früheren Mitschülern, seinem Vater und den Offizierskameraden.“ Er machte eine Pause und sah Mylady schweigend an.
„Ja?“
„Und auch Briefe von seiner Frau.“
Nun sehr ernst, blickte die Frau eine Weile ins Feuer. „Haben Sie jemals einen der Briefe der verstorbenen Mrs Talboys gesehen?“, fragte sie dann.
„Nein, nie. Der Inhalt ihrer Briefe wird wohl kaum Licht auf das Schicksal meines Freundes werfen. Ich erwarte nicht viel von ihnen, zumal sie sicherlich auch die übliche weibliche Handschrift gehabt haben wird. – Es gibt nur wenige, die so bezaubernde und ungewöhnliche Schriftzüge haben wie Sie, Lady Audley.“ Er beobachtete Lady Audley scharf.
„Oh natürlich, Sie kennen ja meine Handschrift.“ Sie drehte sich zu ihm und lächelte ihn an. „Meine Stieftochter berichtete mir, wie entzückt Sie über meine Handschrift waren.“
Sie schwiegen eine Weile. Dann griff Lady Audley nach dem großen Muff, den sie auf einem Stuhl abgelegt hatte, und machte Anstalten aufzubrechen. „Sie haben es abgelehnt, meine Entschuldigung anzunehmen, Mr Audley“, bemerkte sie eisig. „Ich hoffe jedoch zuversichtlich, Sie sind sich nichtsdestotrotz meiner Gefühle Ihnen gegenüber gewiss.“
„Oh, ganz gewiss.“
„Dann sage ich Ihnen Lebewohl und rate Ihnen, nicht zu lange an diesem elenden, zugigen Ort zu bleiben.“
„Morgen früh reise ich in die Stadt zurück, um nach den Briefen zu sehen.“
„Dann noch einmal – leben Sie wohl.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. Ihre Hand erschien so schwach und klein, dass er sie in seinem starken Griff leicht hätte zerdrücken können.
Ohne ein weiteres Wort begleitete Robert Lady Audley zu ihrer Kutsche und sah, wie der Einspänner davonrollte. Jedoch fuhr der Kutscher nicht in Richtung Audley Court, sondern nach Brentwood, das etwa sechs Meilen von Mount Stanning entfernt lag.
Eine Weile nach dieser Begegnung rauchte Robert eine Zigarre vor der Eingangstür des Wirtshauses. Und während er den Schnee beobachtete, der auf die gegenüberliegenden weißen Felder herabrieselte, sah er auf einmal den Einspänner erneut beim Eingang des Gasthauses vorfahren. Dieses Mal jedoch ohne Mylady.
„Haben Sie Lady Audley zum Court zurückgebracht?“, fragte Robert den Kutscher, der wegen eines Kruges heißen, gewürzten Ales angehalten hatte.
„Nein, Sir. Ich komme gerade vom Bahnhof in Brentwood. Mylady hat den Zug um zwölf Uhr vierzig nach London genommen.“
„In die Stadt?“
„Ja, Sir.“
„Mylady unterwegs in die Stadt!“, grübelte Robert. „Dann werde ich ihr mit dem nächsten Zug folgen. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, dann weiß ich auch, wo ich sie finden kann.“
19. Kapitel
E s war genau fünf Minuten nach vier, als Mr Robert Audley auf den Bahnsteig in Charing Cross trat und wartete, dass ihm sein Reisesack ausgehändigt werden würde. Lange Zeit wartete Robert Audley mit äußerster Geduld. Doch da es sehr viele Reisende gab, die Utensilien anscheinend wichtigster Art mit sich führten, dauerte es lange, bis alle auf ihr Hab und Gut Wartenden zufriedengestellt werden konnten. Mittlerweile ließ selbst der seraphische Gleichmut des
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