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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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unerwartete Besucherin hereinzugeleiten, fuhr er, halblaut zwischen den Zähnen murmelnd, fort: „Ein ­falscher Schachzug, Mylady. Ein Schachzug, den ich nie von Ihnen erwartet hätte.“
    Lucy Audley sah an diesem kalten und verschneiten Januarmorgen ganz zauberhaft aus. Sie war in jene Zobelfelle gehüllt, die Robert Audley aus Russland mitgebracht hatte, und trug den dazu passenden Muff. Sie wirkte kindlich und hilflos. Robert betrachtete sie mit einem Anflug von Mitleid in den Augen, als sie zum Feuer trat und sich ihre zierlichen behandschuhten Hände an der Glut wärmte.
    „Was für ein Morgen, Mr Audley“, begann sie. „Was für ein Morgen!“
    „Ja, in der Tat! Aber warum sind Sie bei diesem Wetter aus dem Haus gegangen, Lady Audley?“
    „Weil ich gerade Sie sehen wollte.“
    „Wirklich?“
    „Ja“, erwiderte Mylady mit äußerst verlegener Miene, wobei sie mit dem Knopf an ihrem Handschuh spielte. „Ja, Mr Audley, ich hatte das Gefühl, dass Sie nicht gut ­behandelt worden sind, dass ... kurz, dass Sie Grund zur Klage haben und Ihnen eine Entschuldigung gebührt.“
    „Ich will keine Entschuldigung, Lady Audley.“
    „Aber Sie haben einen Anspruch darauf, mein lieber Robert“, antwortete sie. „Warum müssen wir eigentlich so förmlich zueinander sein? Sie haben sich in Audley sehr wohlgefühlt, und wir waren auch sehr froh, Sie bei uns zu haben. Doch dann musste es sich mein guter, närrischer Ehemann doch tatsächlich in den Kopf setzen, dass es für den Seelenfrieden seiner armen kleinen Frau gefährlich sei, einen jungen Neffen in ihrem Boudoir seine Zigarren rauchen zu lassen. Und, siehe da, unsere vergnügte kleine Familienrunde bricht auseinander.“
    Lucy Audley sprach mit jener eigentümlich kindlichen Lebhaftigkeit, die ihrem Naturell eigen zu sein schien.
    Nachdenklich blickte Robert auf ihr heiteres Gesicht herab. „Lady Audley“, sagte er, „der Himmel verhüte, dass Sie oder ich das edle Herz meines Onkels jemals mit ­Kummer oder Unehre belasten mögen. Es ist vielleicht ­besser, dass ich dem Haus vorerst fernbleibe.“
    Während dieser Bemerkung ihres Neffen hatte Mylady ins Feuer gesehen, doch bei seinen letzten Worten hob sie plötzlich den Kopf und schaute ihm erstaunt ins Gesicht.
    „Oh, bitte, beunruhigen Sie sich nicht, Lady Audley“, fuhr er fort. „Sie haben keinen sentimentalen Unsinn, keine dümmliche Vernarrtheit von mir zu befürchten. Ich habe gesagt, ich bleibe Audley Court fern, jedoch nicht aus sentimentalen Gründen, sondern aus einem bei Weitem schwerwiegenderen Grund.“
    Mylady zuckte mit den Achseln. „Wenn Sie darauf beharren, in Rätseln zu sprechen, Mr Audley“, erwiderte sie, „dann müssen Sie es einer armen kleinen Frau schon verzeihen, wenn sie es ablehnt, darauf zu antworten.“
    Auf diesen Einwurf entgegnete Robert nichts.
    „Doch nun erklären Sie mir“, setzte Mylady in einem unerwartet ernsten Ton hinzu, „was Sie dazu bewogen hat, diesen elenden Ort hier aufzusuchen?“
    „Neugier.“
    „Neugier?“
    „Ja, dieser stiernackige Mann mit den dunkelroten Haaren und den boshaften grauen Augen hat mein ­Interesse erregt. Ein gefährlicher Mann, Mylady. Ein Mann, in dessen Gewalt ich ganz und gar nicht geraten möchte.“
    In Lady Audleys Gesicht sprühten plötzlich zornige Funken. „Was habe ich Ihnen getan, Robert Audley!“, rief sie aus. „Was habe ich Ihnen angetan, dass Sie mich so ­hassen?“
    Erst war Robert überrascht, doch dann antwortete er betont ruhig auf ihre Frage. „Ich hatte einen Freund, Lady Audley, den ich sehr gern hatte, und seit ich ihn verloren habe, fürchte ich, sind meine Gefühle anderen Menschen gegenüber seltsam verbittert.“
    „Meinen Sie diesen nichtsnutzigen Mr Talboys, der nach Australien ging?“
    „Ja, doch ich glaube nicht, dass er abreiste.“
    „Und warum nicht?“
    „Eine Woche nach dem Verschwinden meines Freundes“, fuhr Robert fort, „sandte ich eine Anzeige an die Zeitungen in Sydney und Melbourne. Darin ersuchte ich meinen Freund, sollte er diese Anzeige lesen, mir ­seinen zeitweiligen Aufenthaltsort mitzuteilen. Außerdem ­forderte ich jeden, der mit ihm zusammengetroffen war, dringend auf, mir Auskunft über ihn zukommen zu lassen. Auf die Anzeige müsste ich eigentlich bereits irgendeine Antwort erhalten.“
    „Und wenn Sie keine Antwort bekommen?“, fragte Lady Audley.
    „Wenn ich keine Antwort erhalte, muss ich annehmen, dass meine Befürchtungen nicht unbegründet

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