Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
suchte, die hinunter zum Wasser führten.
Mr Maldon hatte seinen unordentlichen Haushalt in einer tristen Durchgangsstraße eingerichtet. Brigsome’s Terrace war wahrscheinlich einer der bedrückendsten Häuserblocks, die jemals aus Ziegelsteinen und Mörtel errichtet worden waren. Unglück haftete dieser erbärmlichen Häuserreihe an. Den lärmenden Kindern, die vor den Fenstern spielten, waren der Gerichtsvollzieher und der Pfandleiher sicherlich ebenso wohlbekannt wie der Metzger und Bäcker. Schaudernd blickte Robert Audley sich um, als er in diese von Armut geplagte Straße einbog. Während er sich den Häusern näherte, wurde gerade ein Kindersarg aus einer der Behausungen getragen, und Robert überlegte, dass der Sohn seines Freundes ebenso darin liegen könnte wie jedes andere Kind in dieser armseligen Straße auch.
„Der Junge soll keine Nacht länger in diesem jämmerlichen Loch zubringen“, entschied Robert, als er an die Tür von Mr Maldons Haus klopfte.
Ein schlampiges Dienstmädchen öffnete die Tür und musterte Mr Audley misstrauisch, während es ihn fragte, was er denn wünsche. Die Tür zum kleinen Wohnraum war nur angelehnt, und Robert konnte das Geklapper von Messern und Gabeln und die kindliche Stimme des kleinen George hören, der munter vor sich hin plapperte. Robert Audley erklärte dem Dienstmädchen, er komme aus London, wolle Master Talboys sehen und werde sich selbst anmelden. Damit zwängte er sich ohne weitere Umstände an dem Mädchen vorbei und stieß die Tür zum Wohnzimmer auf.
Ängstlich starrte das Mädchen ihn an. Plötzlich schien ihm ein Gedanke in den Sinn gekommen zu sein. Schnell warf es die Schürze ab und rannte hinaus in den Schnee. Das Mädchen stürzte über das freie Nachbargrundstück davon, schoss in eine enge Gasse und holte erst Atem, als es sich auf der Schwelle einer gewissen Taverne, „Coach and Horses“ genannt, wiederfand. Diese wurde von Mr Maldon sehr geschätzt. Das brave Dienstmädchen hatte Robert Audley für einen Eintreiber von Armensteuern gehalten. Und so war es davongestürmt, um seinen Herrn vor dem Nahen des Feindes zu warnen.
Als Robert unterdessen das Wohnzimmer betrat, sah er zu seiner Überraschung, dass eine Frau dem kleinen George gegenübersaß. Sie aßen am Tisch, auf dem ein schmutziges Tuch ausgebreitet war, und nahmen ein karges Mahl ein. Eilig stand die Frau auf, als Robert hereinkam, und knickste unterwürfig vor dem jungen Advokaten. Sie schien ungefähr fünfzig Jahre alt zu sein und trug fadenscheinige Witwenkleidung. Ihre Gesichtsfarbe war von einer unangenehmen Blässe, zwei glatte Haarsträhnen lugten unter ihrer Haube hervor.
„Mr Maldon ist nicht zu Hause, Sir“, sagte sie mit einschmeichelnder Höflichkeit. „Doch wenn Sie wegen der Wasserabgabe kommen, dann hat er mich beauftragt zu sagen ...“
Sie wurde mitten in ihren Ausführungen von dem kleinen George Talboys unterbrochen, der von seinem Stuhl rutschte und zu Robert Audley lief. „Ich kenne Sie!“, rief er. „Sie sind mit dem großen Gentleman nach Ventnor gekommen, und Sie sind auch schon einmal hier gewesen und haben mir Geld geschenkt. Das habe ich Großpapa zum Aufheben gegeben.“
„Das ist richtig, Georgey. – Komm“, bat er, „ich möchte dich einmal genau betrachten.“ Robert Audley ging mit dem Jungen zum Fenster. Er drehte das Gesicht des Kindes zum Licht und strich ihm mit beiden Händen die braunen Locken aus der Stirn. „Du wirst deinem Vater mit jedem Tag ähnlicher, Georgey, und du wirst außerdem ein richtiger junger Mann“, bemerkte er. „Würdest du gern in die Schule gehen?“
„Oh, ja, bitte, das würde ich sehr gerne tun“, antwortete der Junge eifrig. „Ich bin einmal in Miss Pevins Schule gegangen, eine Tagesschule, wissen Sie, gleich um die Ecke in der nächsten Gasse. Aber ich bekam die Masern, und Großpapa ließ mich dann nicht mehr hingehen, weil er Angst hatte, ich könnte die Masern noch einmal bekommen. Ich würde gern in die Schule gehen, bitte. Ich kann schon heute gehen, wenn Sie wollen. Mrs Plowson wird meinen Kittel bereitlegen, nicht wahr, Mrs Plowson?“
„Gewiss, Master Georgey, wenn dein Großpapa das wünscht“, erwiderte die Frau, wobei sie ängstlich zu Robert hinübersah. Sie hatte sich unmerklich bis an den kleinen Tisch herangeschoben und wollte sich gerade des Jungen bemächtigen, als Robert sich jäh zu ihr drehte.
„Was haben Sie mit dem Jungen vor?“, fragte
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