Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
er.
„Ich wollte ihn nur hinausbringen, um sein hübsches Gesicht zu waschen und sein Haar zu kämmen, Sir“, entgegnete die Frau in dem gleichen einschmeichelnden Ton wie kurz zuvor. „Sie sehen ihn nicht gerade von seiner besten Seite, Sir. Sein liebes Gesicht ist so schmutzig. Ich brauche keine fünf Minuten.“ Während sie so redete, legte sie ihre langen, dünnen Arme um den Jungen und wollte das Kind gerade hinaustragen, als Robert ihr Einhalt gebot.
„Ich sehe ihn lieber so, wie er jetzt ist. Vielen Dank“, sagte er. „Meine Zeit in Southampton ist begrenzt, und ich möchte alles hören, was der kleine Mann mir zu erzählen hat.“
Der Junge blickte lächelnd in die grauen Augen des Anwalts. „Ich hatte Angst vor Ihnen, als Sie damals kamen, weil ich noch schüchtern war“, sagte der Kleine. „Jetzt bin ich aber nicht mehr schüchtern. Ich bin schon fast sechs Jahre alt.“
Aufmunternd tätschelte Robert den Kopf des Jungen, wobei er jedoch die Witwe beobachtete, die an das Fenster getreten war und angestrengt hinausblickte. „Ich habe den Eindruck, Sie sind wegen irgendjemandem nervös, Madam“, sagte Robert.
Das Gesicht der Frau wurde glühendrot. „Ich halte Ausschau nach Mr Maldon, Sir“, erklärte sie. „Er wird enttäuscht sein, wenn er Sie nicht mehr antrifft.“
„Sie wissen also, wer ich bin?“
„Nein, Sir, aber ...“
Der Junge unterbrach sie, indem er eine kleine juwelenbesetzte Uhr aus seinem Hemd zog und sie Robert zeigte. „Das ist die Uhr, welche die schöne Dame mir geschenkt hat“, erzählte er. „Ich habe sie jetzt, aber ich habe sie noch nicht lange, weil nämlich der Juwelier, der sie immer reinigt, ein fauler Mann ist, meint Großpapa, und sie immer so lange bei sich behält. Großpapa meint auch, sie wird wieder gereinigt werden müssen, wegen der Steuern! Er bringt sie immer zum Reinigen, wenn Steuern fällig sind. Aber er glaubt auch, dass die schöne Dame mir eine andere geben würde, wenn er sie einmal verlieren sollte. Kennen Sie die schöne Dame?“
„Nein, Georgey, aber berichte mir alles über sie.“
Wieder versuchte die Frau, sich des Jungen zu bemächtigen. Diesmal hielt sie ein Taschentuch in der Hand und ließ große Besorgnis über den Zustand der Nase des kleinen Georgey erkennen.
Robert entzog ihr das Kind. „Dem Jungen ginge es sehr gut, Madam“, meinte er streng, „wenn Sie nur so gütig wären, ihn fünf Minuten in Ruhe zu lassen. – Nun, Georgey, wie wäre es, wenn du mir alles über die schöne Dame erzählen würdest?“ Er setzte sich auf einen Stuhl nahe dem Tisch.
Das Kind kletterte auf Mr Audleys Knie, wobei es seinen Aufstieg mit Hilfe einer sehr unsanften Behandlung des Jackenkragens seines Vormundes bewältigte. „Großpapa meint zwar, ich dürfe niemandem etwas sagen, aber ich erzähle es Ihnen doch, wissen Sie, weil ich Sie mag und weil Sie mich zur Schule bringen werden. Die schöne Dame kam eines Abends hierher. – Es ist aber schon sehr lange her“, erklärte er, wobei er den Kopf neigte und eine Miene aufsetzte, deren Feierlichkeit eine ungeheure Zeitspanne zum Ausdruck bringen sollte. „Sie kam, als ich noch gar nicht so groß war, wie ich es jetzt bin. Sie kam in der Nacht, nachdem ich schon ins Bett gegangen war. Sie kam hinauf in mein Zimmer, setzte sich auf das Bett und sie ließ die Uhr unter meinem Kopfkissen zurück. Nicht wahr, Mrs Plowson?“ Die Frau nickte vorsichtig. „Mrs Plowson ist Mathildas Mutter. Kannten Sie Mathilda? Die arme Mathilda hat immer geweint. Sie war sehr, sehr krank.“ Der Junge schaute betrübt vor sich hin.
Bevor Robert Audley fragen konnte, wer Mathilda sei, stand plötzliche Mr Maldon halb betrunken auf der Schwelle zum Wohnzimmer und starrte Robert an. Das Dienstmädchen verharrte indes atemlos hinter ihrem Herrn.
Mit schwerer Zunge richtete der Mann sich an Mrs Plowson: „Sie sind mir ’ne feine Person ... nennen sich ’ne Frau mit Vernunft!“, rief er. „Warum bringen Sie das Kind nich’ weg, wasch’n sein Gesicht? Woll’n Sie mich ruinieren? Bringen Sie das Kind weg!“ An seinen Gast gewandt säuselte Maldon: „Mr Audley, Sir, sehr erfreut, Sie zu sehen. Glücklich, Sie in mein’m bescheidenen Heim begrüss’n zu dürfen.“ Er ließ sich in einen Sessel sinken und schien sichtlich bemüht, seinem unerwarteten Besucher fest in die Augen zu sehen.
Was immer auch das Geheimnis dieses Mannes sein mag, überlegte Robert, als er zusah, wie
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