Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
auf den Tisch fallen und weinte.
Mitleidig betrachtete Robert Audley dieses traurige Bild: das schäbige Zimmer, den Schmutz, die Unordnung, die Gestalt des alten Mannes, der inmitten der unansehnlichen Überreste einer kargen Mahlzeit seinen grauen Kopf auf das fleckige Tischtuch gelegt hatte. Doch all das verblasste vor Robert Audleys Augen, als er an seinen Onkel dachte. Ein Mann, der möglicherweise schon bald sehr viel bitterere Tränen vergießen würde als der Alte dort am Tisch.
„Mr Maldon“, nahm Robert nach einer Weile das Gespräch wieder auf. „Sie müssen verstehen, dass diese Sache früher oder später auf jeden Fall auf Sie zugekommen wäre. Wenn nicht durch mich, dann durch andere, amtliche Personen.“ Zögernd wartete er einen Moment. Das Schluchzen am Tisch wollte nicht aufhören. „Wenn es eine Warnung gibt, die Sie jemandem zukommen lassen wollen, Mr Maldon, dann tun Sie es. Lassen Sie diese Person fliehen, bevor ich mein Ziel erreicht habe. Sie soll nicht verfolgt werden, ich schwöre es. – Wenn diese Person jedoch Ihre Warnung missachtet, wenn sie ihre gegenwärtige Stellung zu behaupten versucht, dann soll sie sich vor mir in Acht nehmen. Es wird die Stunde kommen, und dann werde ich sie nicht verschonen.“
Der alte Mann blickte zum ersten Mal wieder auf und wischte mit einem zerrissenen Taschentuch über sein nasses Gesicht. „Ich glaube nicht, dass mein Schwiegersohn tot ist“, murmelte der Alte. Er machte einen halbherzigen Versuch, Robert Audley vorzutäuschen, dass sein leidenschaftlicher Gefühlsausbruch allein der Trauer über den Verlust von George Talboys entsprungen sei, doch der Versuch wirkte kläglich. Da ging die Tür auf und Mrs Plowson führte den kleinen Georgey herein, dessen Gesicht dank Seife und kräftigen Reibens strahlte.
„Du liebe Güte!“, rief sie. „Worüber hat sich der arme alte Herr so aufgeregt? Wir konnten ihn im Gang hören, wie er so schrecklich weinte.“
Der kleine Georgey eilte zu seinem Großvater und streichelte dessen Gesicht. „Weine nicht, Großpapa“, flehte er. „Du sollst auch meine Uhr zum Reinigen bekommen. Und der freundliche Juwelier soll dir das Geld leihen, um den Steuereintreiber zu bezahlen, während er die Uhr reinigt. Es macht mir wirklich nichts aus, Großpapa.“ Der kleine Bursche zog das juwelenbesetzte Spielzeug aus seinem Hemd.
„Dein Großpapa will die Uhr heute nicht, Georgey“, erklärte Robert Audley.
„Warum ist er dann traurig?“, fragte Georgey mit gerunzelter Stirn. „Wenn er die Uhr haben will, ist er auch immer so traurig. Und die Uhr macht ihn dann wieder fröhlich.“
So schmerzlich das Geplapper des Kindes Robert Audley auch berühren mochte, für den alten Mann schien es eine willkommene Ablenkung zu bedeuten. Er stand auf und ging im kleinen Zimmer auf und ab. Dabei glättete er sein zerzaustes Haar und duldete es, dass Mrs Plowson, die sehr erpicht darauf schien, den Grund für seine Aufregung herauszufinden, seine Krawatte in Ordnung brachte. „Der arme, liebe alte Gentleman“, jammerte sie, wobei sie Robert ansah. „Was ist passiert, dass er so außer sich ist?“
„Sein Schwiegersohn ist tot“, erwiderte Mr Audley und heftete seine Augen auf Mrs Plowsons mitfühlendes Gesicht.
Das Gesicht, in das er blickte, veränderte sich jedoch kaum merklich. „Der arme George Talboys tot!“, rief sie. „Das ist tatsächlich eine schlimme Neuigkeit, Sir.“
Bei diesem Ausruf sah der kleine George fragend zu seinem Vormund auf. „George Talboys ist mein Name. Wer ist tot?“, wollte das Kind wissen.
„Ein Mann, dessen Name auch Talboys war, Georgey“, sagte Robert zu dem Kind. Dann wandte er sich dem Alten zu. „Sie haben keinen Einwand dagegen, dass ich Georgey mitnehme, Mr Maldon?“
Die Erregung des alten Mannes hatte sich in der Zwischenzeit weitgehend gelegt. Zitternd versuchte er eine andere Pfeife zu entzünden, die hinter dem billigen Rahmen des Spiegels gesteckt hatte. „Nein, Sir. Sie sind sein Vormund und haben das Recht, ihn zu bringen, wohin Sie wollen. Er ist mir auf meine einsamen alten Tage ein sehr großer Trost gewesen. Ich ... ich habe vielleicht nicht immer meine Pflicht erfüllt, Sir, was den Schulunterricht und ... und seine Stiefel anbelangt. Die Anzahl Stiefel, die Jungen seines Alters verbrauchen, Sir, kann sich ein junger Mann wie Sie kaum vorstellen. Er ist möglicherweise manchmal nicht in die Schule geschickt worden
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