Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
die zur beschaulichen Abgeschiedenheit von Audley Court führten.
Die zu einem Gewölbe verwachsenen Bäume breiteten ihre kahlen Äste über seinem Kopf aus. Sie wirkten nackt und geradezu unheimlich im letzten Licht des Tages. Ein leise stöhnender Wind strich über das flache Weideland und ließ die knorrigen Äste vor dem grauen Himmel hin und her schwanken. Im eisigen Winterzwielicht erschienen sie ihm wie drohende Gespenster, die ihn gestikulierend aufforderten, seinen Schritt zu beschleunigen. Was würde aus Audley Court werden, sollte mein Onkel sterben?, dachte Robert, als er sich dem efeubewachsenen Torbogen näherte. Es war schmerzlich für ihn, auch nur daran denken zu müssen. Als Robert aus dem finsteren Schatten des raschelnden Efeus hervortrat, das sich im frostigen Stöhnen des Windes rastlos bewegte, war in der langen Reihe Fenster nur ein einziges Licht zu sehen. Es war das große Erkerfenster im Zimmer seines Onkels. Anders als bei seinem letzten Besuch, wo das Haus voller Gäste gewesen war und allabendlich in jedem Fenster Kerzen gebrannt hatten, lag das Haus nun dunkel und schweigend vor ihm.
Das Gesicht des Mannes, der dem unverhofften Besucher die Tür öffnete, heiterte sich auf, als er den Neffen seines Herrn erkannte.
„Sir Michael wird sich gewiss freuen, Sie zu sehen, Sir“, bemerkte er, während er Robert Audley in die vom Schein des Kaminfeuers erhellte Bibliothek führte. „Darf ich Ihnen eine Erfrischung servieren, Sir, bevor Sie nach oben gehen?“, fragte der Diener. „Seit der Krankheit des Herrn nehmen Mylady und Miss Alicia ihr Dinner frühzeitig ein. Ich kann Ihnen jedoch alles bringen, was Sie wünschen, Sir.“
„Ich möchte nichts, bevor ich nicht meinen Onkel gesehen habe“, lehnte Robert dankend ab. „Das heißt, wenn ich ihn jetzt überhaupt sehen kann. Er ist doch nicht zu krank, um mich zu empfangen?“
„Oh, nein, Sir. Er ist nicht zu krank, nur etwas geschwächt, Sir. Hier entlang, wenn ich bitten darf.“
Der Diener geleitete Robert die Stufen der Eichentreppe hinauf zu dem achteckigen Vorzimmer, in dem George Talboys fünf Monate zuvor auf Myladys Porträt gestarrt hatte. Das Bild war in der Zwischenzeit vollendet worden und hing nun, dem Fenster gegenüber, auf einem Ehrenplatz. Robert blieb einen Moment stehen, um einen kurzen Blick auf das Porträt zu werfen, an das er sich noch so gut erinnern konnte. Mit spöttischem Lächeln spähte das helle Gesicht aus diesem wirren Gleißen goldenen Haares hervor.
Robert durchquerte Myladys Boudoir sowie den Ankleideraum und befand sich auf der Schwelle zu Sir Michaels Zimmer. Leise öffnete der Diener die Tür und ließ Robert ein.
Der Baron war in ruhigen Schlaf versunken. Sein Arm hing aus dem Bett, und die zarten Finger seiner jungen Frau hielten seine Hand umfasst. Alicia saß auf einem Stuhl neben der großen offenen Feuerstelle, wo gewaltige Holzscheite loderten. Da er befürchtete, seinen Onkel aufzuwecken, verharrte Robert schweigend auf der Schwelle. Doch obwohl er so leise gewesen war, hatten die beiden Damen seine Schritte vernommen, hoben die Köpfe und schauten zu ihm herüber. Myladys Gesicht verlor seinen zarten Schimmer und sah beim Licht der Lampe verstört und bleich aus.
„Mr Audley!“, rief sie mit zitternder Stimme.
„Still“, flüsterte Alicia ihr zu. „Sie werden Papa noch aufwecken. – Wie lieb von dir, Robert, dass du gekommen bist.“ Sie bedeutete ihrem Cousin, auf einem Stuhl beim Bett Platz zu nehmen.
Der junge Mann ließ sich dort nieder, genau gegenüber von Mylady. Lange und eindringlich blickte er in das Gesicht Lady Audleys, das nur ganz allmählich seine natürliche Farbe wiedergewann.
„Ist er sehr krank?“, fragte Robert in dem gleichen gedämpften Ton, in dem auch Alicia gesprochen hatte.
„Oh, nein“, erwiderte Mylady, ohne ihre Augen vom Gesicht ihres Mannes zu lösen, „aber wir waren doch beunruhigt.“
Robert ließ keinen Augenblick davon ab, dieses blasse Gesicht der Frau forschend zu betrachten. Sie soll mich anblicken, dachte er. Ich werde sie dazu bringen, mir in die Augen zu sehen. Und ich werde in ihrem Gesicht lesen, wie ich es zuvor schon getan habe. Sie soll wissen, wie sinnlos ihr arglistiges Verstellen in meiner Gegenwart ist. Doch ihr Blick lag auf dem Gesicht des Kranken.
Der regelmäßige Atem des Schlafenden, das Ticken einer goldenen Springdeckeluhr, die am Kopfende des Bettes herabhing, und das Knistern der
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