Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
brennenden Holzscheite waren die einzigen Geräusche, welche die Stille durchbrachen.
Robert schwieg eine Weile, bevor er das Gespräch wieder aufnahm. „Ich bezweifele nicht, dass Sie besorgt waren, Lady Audley“, sagte er schließlich, wobei er ihren Blick suchte, den sie ihm noch immer verweigerte. „Es gibt wohl niemanden, für den das Leben meines Onkels von größerem Wert ist als für Sie. Ihr Glück, Ihr Wohlstand und Ihre Sicherheit hängen gleichermaßen von seiner Existenz ab.“ Der warnende Flüsterton, in dem er diese Worte murmelte, war zu leise, um bis zu Alicia vorzudringen.
Endlich sahen die Augen Lucy Audleys Robert an. Ein triumphierendes Leuchten funkelte in ihnen. „Das weiß ich“, antwortete sie. „Jene, die mich treffen wollen, müssen durch ihn zuschlagen.“ Mit ihren blauen Augen, deren Klarheit durch das triumphierende Funkeln noch verstärkt wurde, forderte sie ihn heraus. Robert schauderte.
Länger als eine Stunde hatte er am Bett seines Onkels gesessen, bevor dieser erwachte. Der Baron zeigte sich hocherfreut über das Kommen seines Neffen. „Es ist schön von dir, dass du mich besuchen kommst, Bob“, sagte er mit leiser Stimme. „Seit ich krank bin, habe ich oft an dich gedacht. Du und Lucy, ihr müsst gute Freunde sein, Bob. Und du musst es lernen, sie als deine Tante zu betrachten. Auch wenn sie jung und schön ist, und ... und ... du verstehst mich, nicht wahr?“
Robert ergriff die Hand seines Onkels. „Ich verstehe Sie, Sir“, entgegnete er ruhig, „und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich gegen Myladys Reize gewappnet bin. Sie weiß das ebenso gut wie ich.“
„Pah, Sie törichter Robert!“, rief Mylady lachend aus. „Sie nehmen aber auch alles ernst. Als ich gemeint habe, ich sei etwas zu jung für einen solchen Neffen, sagte ich das nur aus Furcht vor dem dummen Gerede anderer Leute, nicht aus ...“ Sie zögerte kurz, und da plötzlich die Tür geöffnet wurde und Mr Dawson eintrat, entging sie der Notwendigkeit, ihren Satz beenden zu müssen.
Der Arzt grüßte Robert kurz, fühlte dem Patienten den Puls, stellte zwei oder drei Fragen und erklärte, dass es dem Baron zusehends besser gehe. Er wechselte ein paar belanglose Worte mit Alicia und Lady Audley und machte Anstalten, das Zimmer wieder zu verlassen.
Da erhob sich Robert und begleitete ihn zur Tür. „Ich werde Ihnen den Weg zur Treppe leuchten“, sagte er, indem er eine Kerze von einem der Tische nahm und sie an der Lampe entzündete.
„Nein, Mr Audley, bitte machen Sie sich keine Mühe“, protestierte der Arzt. „Ich kenne den Weg wirklich zur Genüge.“
Robert bestand jedoch darauf, und so gingen die beiden Männer gemeinsam aus dem Zimmer. Als sie zu dem achteckigen Vorraum gekommen waren, blieb der Anwalt plötzlich stehen. „Ich möchte mich kurz mit Ihnen unterhalten, Mr Dawson“, begann Robert.
„Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte der Wundarzt. „Sollten Sie aber wegen Ihres Onkels in Sorge sein, Mr Audley, dann kann ich Sie sogleich beruhigen. Es gibt nicht den geringsten Grund für irgendwelche Befürchtungen.“
„Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen über meinen Onkel zu sprechen, Sir“, antwortete Robert ernst. „Ich würde Ihnen gern zwei oder drei Fragen über eine andere Person stellen.“
„Tatsächlich.“ Der Arzt legte den Kopf schief und blickte Robert misstrauisch an.
„Über jene Person, die vormals als Miss Lucy Graham in Ihrer Familie gelebt hat. Über die Person, die nun Lady Audley ist.“
Mit einem Ausdruck großen Erstaunens in seinem sonst so gelassenen Gesicht sah Mr Dawson auf. „Entschuldigen Sie, Mr Audley“, entgegnete er, „aber Sie können kaum von mir erwarten, dass ich ohne die ausdrückliche Erlaubnis von Sir Michael irgendwelche Fragen über seine Frau beantworte. Ich kann keinen Beweggrund erkennen, der Sie veranlassen könnte, derartige Fragen zu stellen – zumindest keinen ehrenwerten Beweggrund.“ Er blickte den jungen Mann streng an, so als wolle er unterstellen, ihn als Vermittler für ein hinterhältiges Techtelmechtel mit Mylady zu benutzen. „Ich habe diese Dame, auch als sie noch in unserem Haus und Miss Graham war, stets respektiert, Sir“, fuhr er fort. „Und ich schätze sie nun als Lady Audley doppelt.“
„Ich habe kein unehrenhaftes Motiv für die Fragen, die ich an Sie richten will. Sie müssen sie mir beantworten“, insistierte der Neffe des Barons.
„Müssen?“, wiederholte Mr
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