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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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Ihre Hand schien kälter als Marmor zu sein.
    „Ich werde Ihnen die Briefe schicken, Mr Audley“, sagte sie. „Vielleicht helfen sie Ihnen weiter. Auf Wiedersehen.“
    Er beobachtete, wie sie zwischen den Fichten verschwand.

6. Kapitel

    R obert Audley fuhr nach London zurück und erreichte Waterloo Bridge ein oder zwei Stunden nach Einbruch der Dämmerung. Rutschiger Schneematsch schmolz unter den Lampen der Branntweinschenken dahin.
    Er blickte aus dem Fenster der zweirädrigen Droschke und dachte nach: Was für eine überraschende Sache das Leben doch ist. Wäre dieses Mädchen, Clara Talboys, nur fünf Minuten später gekommen, dann hätte ich Dorsetshire in dem festen Glauben verlassen, sie sei kalt und hart wie ihr Vater. Und nun weiß ich, dass sie eine hochherzige und schöne Frau ist. Welch unermesslichen Unterschied diese Erkenntnis in meinem Leben doch ausmacht! Als ich jenes Haus verließ, tat ich das mit dem festen Entschluss, alle weiteren Spekulationen über Georges Tod fahren zu ­lassen. Doch dann treffe ich sie, und sie drängt mich wieder auf den verhassten Weg, den Weg des Belauerns und des Argwohns. Und es stört mich weit weniger, als ich vermutet hatte. – Diese Frau kennt die eine Hälfte meines Geheimnisses. Sie wird sich bald der anderen bemächtigt haben, und dann ... und dann ...
    Während Robert Audley noch tief in Gedanken versunken war, hielt die Droschke an. Er hatte dem Kutscher befohlen, ihn an der Ecke der Chancery Lane abzusetzen. Dort angekommen, bezahlte er den Mann und stieg die strahlend erleuchtete Treppe empor, die zum Gasthaus „The London“ führte.
    Mit einem verwirrend warmen Gefühl in seinem ­Herzen setzte er sich an einen der Tische. Er war in dieses vornehme Speiselokal gekommen, um zu essen, da es notwendig war, irgendwo irgendetwas zu essen, auch wenn er keinen Hunger verspürte. Der eifrig bemühte Kellner versuchte vergeblich, in dem armen Robert ein gebührendes Verständnis für die Bedeutsamkeit der Dinnerabfolge zu wecken. Robert murmelte nur, der Mann möge ihm bringen, was immer er wolle.
    Lustlos verzehrte Robert sein Dinner und trank ein Pint Moselwein dazu. Unterdessen rollten die Gedanken in seinem Kopf unaufhaltsam weiter. Der junge Denker der modernen Schule befasste sich eingehend mit der Frage nach der Nichtigkeit aller Dinge und grübelte über die Torheit von zu großer Kraftanstrengung beim Beschreiten eines Weges, der ins Nichts führt.
    Als er mit Essen fertig war, schob Robert seinen Teller fort, zog die Augenbrauen in die Höhe und starrte auf die Brotkrumen auf dem schimmernden Damasttuch, während er seinen Gedanken nachhing. „Was zum ­Teufel tue ich eigentlich?“, fragte er sich leise. „Ich entscheide so und so, doch dann ergebe ich mich dem braunäugigen Mädchen und tue geduldig und gewissenhaft, was sie von mir verlangt. Welch großes Lebensrätsel doch das Weiberregiment ist!“
    Er fuhr sich mit den Händen durch die dichten braunen Haare, dass sie zu Berge standen. Ich hasse Frauen, dachte er wütend. Sie sind dreiste, unverschämte, abscheuliche Kreaturen, erfunden, um die ihnen weit Überlegenen zu quälen und zu zerstören! Robert bezahlte die Rechnung und belohnte den Kellner, der sicherlich auch Opfer eines häuslichen Frauenregiments war, großzügig.
    Als er in seinen behaglichen Räumen im Fig Tree Court ankam, erschien ihm zum ersten Mal die Beschaulichkeit seines Zuhauses trübselig und einsam.
    Er holte seine Pfeife und ließ sich mit einem Seufzer in seinen Lieblingssessel fallen. Wenn der arme George ... oder auch seine Schwester mir jetzt gegenübersäße, dachte er, dann wäre das Leben ein wenig erträglicher. Aber ich glaube, ich bin in diesen Tagen ein schlechter Gesellschafter. Dann brach er plötzlich in Gelächter aus. „Dass ich an Georges Schwester denke“, rief er. „Wie lächerlich!“

    Die Post des nächsten Tages brachte Robert einen Brief, adressiert in einer ihm unbekannten, zügigen, aber ­weiblichen Handschrift. Er fand das Päckchen auf seinem ­Frühstückstisch vor. Es lag neben den warmen ­französischen Wecken, die Mrs Maloneys in eine Serviette gewickelt hatte. Er betrachtete den Umschlag einige Zeit, bevor er ihn öffnete.
    „Von Clara Talboys“, murmelte er, während er die ­klaren Buchstaben seines Namens und seiner Adresse kritisch begutachtete. Er erkannte eine gewisse Ähnlichkeit in der Handschrift der Geschwister.
    Er drehte den Brief um und untersuchte das Siegel auf

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