Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Grundstück umgab. Ungefähr hundert Yards vom Haupttor entfernt stieß er auf eine kleine Holzpforte. Dort wartete er auf Miss Talboys, die kurz darauf kam.
„Wollen Sie mit mir im Wald auf und ab gehen?“, fragte sie. „Auf der Hauptstraße könnten wir beobachtet werden.“
Robert nickte. Als sie seinen dargebotenen Arm nahm, spürte er, dass sie noch immer heftig zitterte. „Bitte beruhigen Sie sich, Miss Talboys“, sagte er. „Ich kann mich auch in der von mir gebildeten Meinung geirrt haben, ich kann ...“
„Nein!“, rief sie. „Sie haben sich nicht geirrt. Mein Bruder wurde ermordet. Nennen Sie mir den Namen jener Frau ... der Frau, die Sie verdächtigen, an seinem Verschwinden ... beteiligt zu sein.“
„Das kann ich erst, wenn ...“
„Wann?“
„Wenn ich tatsächlich weiß, dass sie schuldig ist.“
„Sie haben meinem Vater gesagt, dass Sie Ihre Absicht, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, nicht weiterverfolgen werden. – Aber das werden Sie nicht, Mr Audley! Sie werden keinen Verrat begehen! Sie werden dafür Sorge tragen, dass Rache an jenen genommen wird, die ihn getötet haben. Sie werden das tun, nicht wahr?“
Ein Schatten von Schwermut legte sich wie ein trüber Schleier über Robert Audleys Gesicht. Noch vor wenigen Minuten hatte er geglaubt, alles sei vorüber und er sei der furchtbaren Pflicht entbunden, das Rätsel aufzuklären. Doch nun trieb ihn dieses Mädchen vorwärts, auf seinem Weg ins Verhängnis. „Und was geschieht, wenn ich Nein sage?“
„Dann nehme ich die Sache selbst in die Hand!“, rief sie. „Ich werde den Hinweisen auf dieses Geheimnis selbst nachgehen. Ich werde diese Frau finden. Ich werde von einem Ende der Welt zum anderen reisen, um das Rätsel seines Schicksals aufzuklären, wenn Sie es ablehnen, das für mich zu tun. Ich bin großjährig und vermögend, da eine meiner Tanten mir Geld hinterlassen hat. Ich bin in der Lage, Leute zu beauftragen, die mir bei meiner Suche helfen werden. Wählen Sie zwischen den Alternativen, Mr Audley. Werden Sie oder werde ich den Mörder meines Bruders finden?“
Robert blickte in ihr Gesicht und erkannte, dass ihre Entschlossenheit keineswegs das Resultat vorübergehenden weiblichen Enthusiasmus war, der unter der eisernen Hand auftretender Schwierigkeiten zusammenzubrechen pflegt.
Robert Audley betrachtete sie mit einem Gefühl von Bewunderung. Sie war stark und schön und gänzlich anders als all die anderen Frauen, die er je gekannt hatte. Seine Cousine war hübsch, die Frau seines Onkels war lieblich und entzückend, doch Clara Talboys war erhaben.
„Miss Talboys“, erwiderte Robert nach einiger Überlegung. „Ihr Bruder soll nicht ungerächt bleiben. Er soll nicht vergessen werden. Doch ich bitte Sie, sich in Geduld zu üben und mir zu vertrauen.“
Mit einem leisen Nicken antwortete sie. „Ich werde Ihnen vertrauen.“
Im Verlauf seiner Unterredung mit Harcourt Talboys hatte Robert Audley es stets sorgfältig vermieden, Schlussfolgerungen aus den geschilderten Geschehnissen zu ziehen. Er hatte die Geschichte des vermissten Mannes erzählt. Doch nun erkannte er, dass Clara Talboys zu dem gleichen Ergebnis gekommen war wie er selbst und dass darüber ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen herrschte.
„Besitzen Sie irgendwelche Briefe Ihres Bruders, Miss Talboys?“, erkundigte er sich.
„Zwei Briefe. Einen schrieb er kurz nach seiner Heirat und den anderen später in Liverpool, am Abend, bevor er nach Australien segelte.“
„Würden Sie mir die Briefe zeigen?“
„Ja, natürlich. Ich werde sie Ihnen schicken, wenn Sie mir Ihre Adresse geben.“ Dann sah sie ihn lange an. „Sie werden mir von Zeit zu Zeit schreiben, nicht wahr, und mir mitteilen, ob Sie der Wahrheit nähergekommen sind?“
Er schwieg.
„In zwei oder drei Monaten werde ich dieses Haus verlassen können und völlig frei sein.“
„Sie werden aus England fortgehen?“, fragte Robert überrascht.
„Oh, nein! Ich mache nur einen seit Langem versprochenen Besuch bei Freunden in Essex.“
Robert zuckte heftig zusammen, als Clara Talboys das sagte.
Aufmerksam schaute sie ihn an. „Mein Bruder verschwand in Essex?“, vermutete sie leise.
„Es tut mir leid, dass Sie bereits so viel herausgefunden haben“, antwortete Robert. „Meine Position wird täglich schwieriger und mit jedem Tag qualvoller.“ Er gab ihr seine Karte, die sie in die Tasche ihres Kleides steckte. Dann verabschiedete er sich.
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