Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
den Eindruck, dass das Auffinden der Dame mehr Probleme bringen würde, als er erwartet hatte. Langsam ging er zu der Ecke zurück, an der er die Kutsche verlassen hatte. Doch dann hörte Robert die Schritte einer Frau an seiner Seite und eine Stimme, die ihn bat stehenzubleiben. Er wandte sich um und fand sich der schäbig gekleideten Frau gegenüber, die er zuletzt beim Begleichen ihrer Rechnung beim Bäcker gesehen hatte.
„Kann ich etwas für Sie tun, Madam?“, fragte er.
„Ja, Sir“, erwiderte die Frau geziert. „Ich ... ich möchte, bitte sehr, wissen, was Sie von ihr wollen ... weil ... weil ...“
„... Sie mir ihre Anschrift geben könnten, wenn Sie wollten, Madam? Das ist es, was Sie sagen wollen, nicht wahr?“
Die Frau zögerte und betrachtete Robert argwöhnisch. Dann nickte sie. „Sie haben nichts mit ... mit Ratenzahlungsgeschäften zu tun, Sir, oder?“, fragte sie, nachdem sie Mr Audleys äußere Erscheinung einige Zeit gemustert hatte.
„Womit, Madam?“, fragte der junge Anwalt verwirrt.
„Ich bitte um Verzeihung, Sir“, entgegnete die junge Frau. „Ich dachte, Sie hätten vielleicht damit zu tun. Einige der Herren, die das Geld eintreiben, sind sehr gut angezogen. Und ich weiß, dass Mrs Vincent vielen Leuten eine Menge Geld schuldig ist.“
„Madam“, beschwichtigte er, „ich möchte gar nichts über Mrs Vincents Angelegenheiten wissen. Mrs Vincent schuldet mir kein Geld. Ich habe sie in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Doch ich würde sie gerne treffen, weil ich ihr einige Fragen über eine junge Dame stellen möchte, die einmal in ihrem Haus gelebt hat. Wenn Sie wissen, wo Mrs Vincent wohnt, und mir ihre Adresse geben, dann tun Sie mir damit einen großen Gefallen.“ Er holte sein Etui mit den Visitenkarten hervor und reichte eine Karte an die Frau weiter, die das kleine Stück Karton ängstlich begutachtete, bevor sie antwortete.
„Sie sehen wie ein Gentleman aus und reden auch wie ein solcher, Sir“, meinte sie nach einer kurzen Pause. „Ich bin die einzige Person, der sie ihre Adresse anvertraut hat. Ich bin Schneiderin, Sir, und habe mehr als sechs Jahre lang für sie gearbeitet. Ich kann Ihnen also sagen, wo sie wohnt, Sir. Sie haben mich nicht getäuscht, nicht wahr?“
„Bei meiner Ehre, nein.“
„Nun, Sir“, die Schneiderin senkte die Stimme, so als befürchte sie, das Pflaster unter ihren Füßen oder die Eisengeländer vor den Häusern an ihrer Seite könnten Ohren haben und sie verstehen. „Die Anschrift lautet Acacia Cottage, Peckham Grove.“
„Ich danke Ihnen“, sagte Robert und schrieb die Adresse in sein Notizbuch. „Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, und Sie können sich darauf verlassen, dass Mrs Vincent durch mich keine Unannehmlichkeiten bekommen wird.“ Er hob den Hut und verbeugte sich vor der Schneiderin. Dann ging er zur Kutsche zurück, die an der Ecke auf ihn wartete.
Peckham Grove, im Sommer durchaus eine nette Gegend, bietet an einem trüben Februartag, da die Bäume kahl und entlaubt und die kleinen Gärten öde und leer sind, einen trübsinnigen Anblick. Mit seinen verzierten Mauern lag Acacia Cottage an der Straße und war nur von ein paar kümmerlichen Pappeln umringt. Mittels eines kleinen Messingschildes an einem der Torpfosten gab das Häuschen jedoch zu erkennen, dass es das Acacia Cottage war, und so hielt die Kutsche und Robert Audley stieg aus.
Aus sozialem Blickwinkel betrachtet, lag das Acacia Cottage in der Rangordnung weit unter den Crescent Villas. Das kleine Dienstmädchen, das zum niedrigen Holztor kam und mit Mr Audley verhandelte, war offensichtlich an Zusammenstöße mit unbarmherzigen Gläubigern gewöhnt. Es murmelte die übliche Ausrede der Dienstboten, dass es über den Aufenthaltsort seiner Herrin im Ungewissen sei. Es forderte Robert auf, er möge doch bitte seinen Namen und sein Anliegen nennen. Es werde dann der Herrin, sobald sie zurück sei, von dem Besuch berichten und diese würde sich dann sicherlich bei ihm melden.
Mr Audley zog eine Visitenkarte hervor und schrieb unter seinen Namen die Worte: „Ein Bekannter der ehemaligen Miss Graham.“ Er wies das Dienstmädchen an, die Karte seiner Herrin zu überbringen, und wartete gelassen auf das, was folgen würde.
Nach ungefähr fünf Minuten kam das Dienstmädchen mit dem Schlüssel des Gartentors zurück. Ihre Herrin sei soeben nach Hause gekommen, teilte es Robert mit, während es ihn einließ,
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