Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
es so?“, rief Lady Audley eifrig.
„Es wäre berufswidrig, es Ihnen zu sagen, wenn es so war, Mylady“, erwiderte Robert ernst.
Mylady biss sich auf die Lippen und verfiel erneut in Schweigen.
„Mein Gott, Robert Audley, du bist wirklich ein sehr angenehmer Unterhalter!“, entfuhr es Alicia schließlich. Sie warf das Buch zur Seite und verließ den Raum.
8. Kapitel
A m nächsten Morgen verließ Robert das Haus seines Onkels mit einem frühen Zug und kam kurz nach neun Uhr in London an. Er kehrte nicht in seine Räume zurück, sondern rief eine Droschke herbei, die ihn direkt zu den Crescent Villas in West Brompton fahren sollte. Es war ihm bewusst, dass er die gesuchte Dame an dieser Adresse nicht antreffen würde, so wie auch sein Onkel sie Monate zuvor nicht hatte ausfindig machen können. Doch hoffte er, einen Hinweis auf den neuen Aufenthaltsort der Schulleiterin erhalten können. Dann würde sich zumindest zeigen, ob die telegrafische Nachricht für Mylady damals echt gewesen war.
Nach einigen Schwierigkeiten entdeckte er endlich die Crescent Villas. Die Häuser an sich waren groß, doch lagen sie halb eingebettet inmitten eines wirren Durcheinanders von Ziegelsteinen und Mörtel, das um sie herum in die Höhe wuchs. Neue Häuserreihen, neue Straßen und Plätze zweigten in jede Richtung ab. Die Straßen waren rutschig durch feuchten Lehm und die Räder der Kutsche stockten immer wieder, während die Fesseln des Pferdes im Matsch versanken.
Trostlosigkeit hatte ihren trübsinnigen Stempel auf die Straßen gedrückt, die um die ehemals feinen Crescent Villas entstanden waren und sie nun gleichsam verschanzten. Nachdem es ihm endlich geglückt war, sein Ziel zu erreichen, stieg Robert aus der Droschke und wies den Kutscher an, an der nächsten Ecke auf ihn zu warten. Dann machte er sich auf den Weg.
Bei der Hausnummer, die Mr Dawson ihm genannt hatte, fragte er nach Mrs Vincent. Das Dienstmädchen, das die Tür öffnete, hatte den Namen dieser Dame noch nie gehört. Doch nachdem es zu seiner Herrin gegangen war und sich erkundigt hatte, kam es zurück und berichtete, dass eine Mrs Vincent tatsächlich in diesem Haus gelebt habe. Das aber müsse fast zwei Jahre her sein.
„Sie können mir nicht sagen, wohin Mrs Vincent von hier aus gezogen ist?“, fragte Robert mutlos.
„Nein, Sir. Die Herrin glaubt, dass die Dame nicht mehr zahlen konnte und deshalb plötzlich verschwand. Sie wollte wohl nicht, dass man in der Nachbarschaft ihre neue Adresse kennt.“
Mr Audley hatte das Gefühl, wieder einmal nicht weiterzukommen. Wenn Mrs Vincent der Gegend unter Zurücklassung von Schulden den Rücken gekehrt hatte, dann war sie zweifellos peinlichst darauf bedacht gewesen, ihren neuen Aufenthaltsort zu verheimlichen. Es bestand daher nur wenig Hoffnung, ihre Anschrift von einem der Händler zu erfahren. Und doch war es andererseits durchaus denkbar, dass einige ihrer hartnäckigsten Gläubiger es sich zur Aufgabe gemacht hatten, den Zufluchtsort der säumigen Zahlerin herauszufinden.
Robert schaute sich zu dem nächsten Geschäft um. Er sah wenige Schritte von den Crescent Villas entfernt einen Bäckerladen, ein Papierwarengeschäft und einen Obstladen. Er blieb beim Laden des Bäckers stehen, der sich Pastetenbäcker und Konditor nannte und in seiner Auslage einige Exemplare steinharter Sandkuchen in Gläsern und ein paar Torten mit viel grüner Glasur zur Schau stellte. Da Mrs Vincent sicherlich ihr Brot in den benachbarten Läden gekauft haben dürfte, trat Robert ein.
Der Bäcker stand hinter der Theke und stritt sich gerade mit einer schäbig-fein gekleideten Frau wegen einzelner Posten auf einer Rechnung. Er machte sich nicht die Mühe, Robert Audley Beachtung zu schenken, bevor er seinen Disput beendet hatte. Dann endlich quittierte er die Rechnung, blickte auf und fragte Robert nach seinen Wünschen.
„Können Sie mir die Adresse einer Mrs Vincent geben, die in den Crescent Villas Nr. 9 gewohnt hat?“
„Nein, das kann ich nicht“, antwortete der Bäcker mit unnötig lauter Stimme. „Doch ich wünschte, ich könnte es. Diese Dame schuldet mir elf Pfund für Brot. Das ist mehr, als ich mir zu verlieren leisten kann. Wenn mir jemand sagen könnte, wo sie lebt, dann wäre ich ihm für diese Auskunft sehr dankbar.“
Robert Audley zuckte mit den Achseln und wünschte dem Mann einen guten Morgen. Die anderen beiden Geschäfte hatten an diesem Tag geschlossen. Zunehmend gewann er
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