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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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Graham. Entsinnen Sie sich, wie lange es her ist, seit sie zu uns in die Crescent Villas kam?“
    „Das war im August 1854“, antwortete Miss Tonks. „Ich glaube, es war der achtzehnte August, aber ich bin nicht ganz sicher, ob es nicht doch der siebzehnte war. Ich weiß, es war an einem Dienstag.“
    „Wunderbar, Tonks! Sie sind ein unbezahlbarer Schatz!“, rief Miss Vincent aus. Vielleicht war die Unbezahlbarkeit der Dienste von Miss Tonks der Grund, warum diese höchstwahrscheinlich keinerlei Lohn von ihrer Dienst­herrin erhielt. Mrs Vincent mochte vielleicht aus Verachtung für das erbärmliche Ausmaß einer ­Entlohnung im Vergleich zu den Lobpreisungen des Lehrerstandes ­gezögert haben, Miss Tonks zu bezahlen.
    „Gibt es noch etwas, das Tonks oder ich Ihnen ­erzählen können?“, fuhr die Schulleiterin fort. „Tonks hat ein ­weitaus besseres Gedächtnis als ich.“
    „Können Sie mir sagen, woher Miss Graham kam, als sie in Ihr Institut eintrat?“, fragte Robert.
    „Nicht genau“, erwiderte Mrs Vincent. „Ich habe nur eine vage Erinnerung. Miss Graham sagte, dass sie von der Küste komme, aber sie erwähnte nicht woher. Wenn sie es doch tat, dann habe ich es vergessen. Tonks, hat Miss Graham Ihnen verraten, woher sie kam?“
    „Nein“, antwortete Miss Tonks, wobei sie ihren ­grimmigen kleinen Kopf schüttelte. „Miss Graham ­verriet mir nichts. Sie verstand es, ihre Geheimnisse für sich zu behalten – trotz ihres unschuldigen Getues und ihrer gekräuselten Haare“, setzte Miss Tonks boshaft hinzu.
    „Sie glauben also, dass sie Geheimnisse hatte?“, fragte Robert aufmerksam.
    „Ich weiß, dass sie welche hatte“, entgegnete Miss Tonks entschieden. „Ich hätte eine solche Person nicht als Hilfslehrerin in einer achtbaren Schule angestellt, schon gar nicht ohne auch nur ein einziges Wort der Empfehlung von irgendeinem Menschen.“
    „Sie erhielten demnach keine Referenzen von Miss ­Graham?“, erkundigte sich Robert, an Mrs Vincent gewandt.
    „Nein“, erwiderte diese etwas verlegen. „Ich habe ­darauf verzichtet, da Miss Graham ihrerseits auf die Frage nach einer Entlohnung verzichtete. Sie sagte, sie habe sich mit ihrem Vater entzweit. Sie suche ein Heim für sich, weit weg von allen Menschen, die sie je gekannt habe. Wie konnte ich ihr unter diesen Umständen wegen einer Referenz zusetzen, vor allem, da ich ja bemerkte, dass sie eine wirkliche Dame war? – Sie wissen doch auch, dass Lucy Graham eine vollendete Dame war, Tonks. Und es ist sehr unfreundlich von Ihnen, gemeine Dinge darüber zu sagen, dass ich sie ohne Empfehlung eingestellt habe.“
    „Wenn man sich besondere Lieblinge schafft, dann lässt man sich auch leicht von ihnen täuschen“, erklärte Miss Tonks zusammenhanglos in salbungsvoll eisigem Ton.
    „Ich habe sie nie zu meinem Liebling auserkoren, meine Gute“, meinte Mrs Vincent vorwurfsvoll. „Ich habe ­niemals gesagt, dass sie so nützlich sei wie Sie. Sie wissen ganz genau, dass ich das nie gesagt habe.“
    „Dann können Sie mir also keinen Hinweis auf Miss Grahams Vorgeschichte geben?“, unterbrach Robert die beiden Frauen und blickte von einer zur anderen.
    Miss Tonks schien nichts zu wissen, außer dass Miss Graham manchmal von sich behauptet hatte, das Opfer unverdienter Armut und Entbehrungen gewesen sei.
    „Ich habe nur noch eine Frage“, sagte Robert schließlich. „Hat Miss Graham, als sie Ihre Schule verließ, irgend­welche Bücher, Briefe, wertlose Kleinigkeiten oder sonst etwas aus ihrem Besitz dagelassen?“
    „Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte Mrs Vincent.
    „Doch!“, rief Miss Tonks scharf. „Sie ließ eine Schachtel zurück. Sie ist oben in meinem Zimmer. Möchten Sie die Schachtel sehen?“
    „Wenn Sie so freundlich wären, es mir zu gestatten“, entgegnete Robert und spürte eine gewisse Unruhe.
    „Ich werde die Schachtel herunterbringen“, erklärte Miss Tonks eifrig. Miss Tonks war aus dem Raum ­gelaufen, noch ehe Mr Audley die Zeit fand, höfliche Einwände zu erheben.
    Wie gnadenlos diese Frauen doch zueinander sind, sann er, nachdem die Lehrerin das Zimmer verlassen hatte. Während der junge Advokat noch über die Niedertracht des weiblichen Geschlechts nachgrübelte, betrat Miss Tonks wieder das Zimmer. Sie trug eine schäbige, mit ­Zetteln beklebte Hutschachtel in den Händen, die sie Robert zur Ansicht vorlegte.
    Er beugte sich vor, um die Etiketten der Eisenbahn­gesellschaften und die Adressenschilder

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