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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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und freue sich, den Gentleman zu empfangen.
    Der Raum, in den Robert geführt wurde, trug auf jedem Ziergegenstand und auf jedem Möbelstück den unverkennbaren Stempel jener Art von Armut, die eigentlich die bedrückendste ist, weil sie niemals zum Stillstand kommt. Der Raum, den Robert überblickte, war mit den Überresten jenes gesellschaftlichen Schiffbruchs möbliert, den die Schulleiterin in den Crescent Villas erlitten hatte. Ein Wandklavier, eine Kommode mit Schubladen, die zu groß und zu prunkvoll für das kleine Zimmer war, sowie ein Kartentisch mit dünnen Beinen. Ein fadenscheiniger ­Brüsseler Teppich lag in der Mitte des Raumes und ­bildete eine verblasste Oase von Rosen und Lilien. Geraffte Vorhänge verhüllten die Fenster. Robert setzte sich auf einen der wackeligen Stühle und wartete geduldig auf das ­Kommen der Schulleiterin.
    Er vernahm das Gemurmel von Stimmen im Nebenraum sowie Harmonien, die auf einem Klavier herunter­geklimpert wurden, dessen Saiten sich offensichtlich im letzten Stadium der Auflösung befanden. Er hatte ­vielleicht eine Viertelstunde gewartet, als die Tür aufging und eine Dame den Raum betrat. Sie war herausgeputzt, und in ihrem Gesicht befand sich der letzte Abglanz einer ­verblühten Schönheit.
    „Mr Audley, nehme ich an“, sagte Mrs Vincent und bedeutete Robert, sich wieder zu setzen. Sie selbst nahm in einem Sessel ihm gegenüber Platz. „Sie werden verzeihen, hoffe ich, dass ich Sie so lange habe warten lassen, aber meine Pflichten ...“
    „Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich Sie belästige“, antwortete Robert höflich. „Doch der Grund ­meines Besuches ist ernst und dient mir als Entschuldigung. ­Erinnern Sie sich der Dame, deren Namen ich auf meine Karte geschrieben habe?“
    „Vollkommen.“
    „Darf ich fragen, wie viel Sie von dem Leben dieser Dame wissen, seitdem sie Ihr Haus verlassen hat?“
    „Sehr wenig. Ich glaube, Miss Graham bekam eine ­Stellung in der Familie eines Arztes, der in Essex wohnt. In der Tat war ich es, die sie diesem Gentleman empfohlen hat. Ich habe niemals wieder von ihr gehört, seit sie weggegangen ist.“
    „Aber Sie standen mit ihr in Verbindung?“, fragte Robert gespannt. – „Nein, wirklich nicht.“
    Mr Audley schwieg. „Darf ich fragen, ob Sie letzten ­September eine telegraphische Nachricht an Miss Graham sandten, die besagte, dass Sie gefährlich erkrankt seien und sie zu sehen wünschten?“
    Mrs Vincent lächelte bei der Frage ihres Besuchers. „Ich hatte keine Veranlassung, eine derartige Botschaft zu ­schicken“, erwiderte sie. „Ich erfreue mich bester Gesundheit.“
    Bevor Robert Audley weitere Fragen stellte, hielt er inne und schrieb hastig ein paar Worte in sein Notizbuch. „Wenn ich nun einige Fragen über Miss Lucy Graham an Sie richte, Madam“, sagte er, „werden Sie mir den ­Gefallen tun, diese zu beantworten, ohne nach dem Motiv für meine Erkundigungen zu fragen?“
    „Aber sicherlich“, entgegnete Mrs Vincent. „Ich weiß nichts Nachteiliges über Miss Graham und habe daher ­keinen Grund, das wenige, was ich weiß, zu verheim­lichen.“
    „Können Sie mir das Datum nennen, an dem die junge Dame zum ersten Mal zu Ihnen gekommen ist?“
    Mrs Vincent lächelte und schüttelte den Kopf. „Es hat nicht den geringsten Sinn, mich danach zu fragen, Mr Audley“, meinte sie. „Ich bin der nachlässigste Mensch der Welt. Ich habe mir niemals Daten gemerkt und sie mir auch nie merken können. Ich habe nicht die entfernteste Ahnung, wann Miss Graham zu mir kam, obschon ich weiß, dass es vor Ewigkeiten gewesen sein muss, denn es war in jenem Sommer, in dem ich mein pfirsichfarbenes Kleid trug. Doch wir sollten Tonks zu Rate ziehen ... Tonks wird es bestimmt wissen.“
    Robert Audley fragte sich, wer oder was Tonks wohl sein könne, vielleicht ein Papagei oder ein Tagebuch. Er sah, wie Mrs Vincent die Glocke läutete, worauf das Dienstmädchen erschien, das Robert eingelassen hatte.
    „Bitte Miss Tonks, zu mir zu kommen“, sagte sie. „Ich möchte sie sprechen.“
    Kurz darauf betrat Miss Tonks den Raum. Ihre Miene war kühl und frostig, und sie schien in den kargen ­Falten ihres dunklen Wollkleides einen Luftzug mit hereinzubringen. Sie war undefinierbaren Alters und sah aus, als sei sie nie jünger gewesen als heute und werde auch ­niemals älter werden.
    „Tonks, meine Liebe“, begann Mrs Vincent ohne Umschweife, „dieser Gentleman ist ein Verwandter von Miss

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