Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
zu untersuchen, die hier und da auf der Schachtel aufgeklebt waren. Die Hutschachtel war auf ziemlich vielen und verschiedenen Bahnlinien böse zugerichtet worden und ganz offensichtlich weit gereist. Viele der Schilder waren abgerissen worden, doch Reste von manchen waren noch vorhanden. Auf einem gelben Papierrest las Robert die Buchstaben „TURI“, welches zweifellos die italienische Stadt Turin meinte. Das einzige Schild, das weder unleserlich gemacht noch abgerissen worden war, war das letzte, das die Aufschrift „Miss Graham, Reisende nach London“ trug. Mr Audley betrachtete dieses Stück Papier sorgfältig und entdeckte, dass es über einem anderen Schild klebte.
„Wären Sie wohl so freundlich, mir ein wenig Wasser und einen Schwamm zu geben?“, bat er die Damen. „Ich will dieses obere Etikett entfernen.“ Misstrauisch blickte Mrs Vincent Robert Audley an. „Sie dürfen mir glauben, Madam, dass ich berechtigt bin, das zu tun, was ich hier vorhabe.“
Unverzüglich lief Miss Tonks aus dem Raum und kehrte mit einer Schüssel Wasser und einem Schwamm zurück. „Soll ich den Zettel abmachen?“, fragte sie eifrig.
„Nein, vielen Dank“, erwiderte Robert kühl. Er befeuchtete das Etikett mehrere Male, bevor es glückte, die Ecken zu lösen. Nach zwei vorsichtigen Versuchen ließ sich das feuchte Papier abziehen, ohne dass die darunter befindliche Adresse beschädigt wurde. Auch dieses Schild entfernte er von der Hutschachtel und legte die Schilder vorsichtig zwischen zwei leere Seiten seines Notizbuches.
„Ich brauche Sie nun nicht länger zu belästigen, meine Damen“, sagte er dann. „Ich bin Ihnen außerordentlich zu Dank verpflichtet, dass Sie mir geholfen haben. – Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.“
Mrs Vincent lächelte, neigte den Kopf und murmelte einige gefällige Floskeln über das Vergnügen, das Mr Audleys Besuch ihr bereitet habe. Die aufmerksamere Miss Tonks jedoch beobachtete starren Blickes die Blässe, die das Gesicht des jungen Mannes überzogen hatte, nachdem er das obere Etikett von der Hutschachtel gelöst hatte.
9. Kapitel
L angsam wanderte Robert Audley in der grauen Februarwitterung durch das entlaubte Gehölz. Er ging unter den kahlen und schattenlosen Bäumen dahin und dachte über die soeben gemachte Entdeckung nach: Die Geschichte der Lucy Graham beginnt an der Schwelle von Mrs Vincents Schule, wo sie im August 1854 ihre Stellung antrat. Die Schulleiterin und auch die Lehrerin haben das bestätigt, aber sie konnten nicht sagen, woher sie kam. Weiter zurück im Leben der Lucy Graham würde er nicht mehr gehen können. Er wusste, dass er nun die Geschichte der Helen Talboys aufdecken musste, bis zu dem Tag, an dem sie starb.
Robert winkte eine vorbeirollende Mietkutsche heran und erreichte Fig Tree Court noch rechtzeitig, um ein paar Zeilen an Miss Talboys zu schreiben und den Brief vor sechs Uhr zur Post bringen zu lassen.
Er wollte von Clara Talboys den Namen der kleinen Hafenstadt wissen, in der George Kapitän Maldon und seiner Tochter begegnet war. Der Brief, den Miss Talboys knapp einen Monat nach Georges Eheschließung von ihrem Bruder erhalten hatte, war in Harrowgate aufgegeben worden. Robert vermutete, dass das junge Ehepaar seine Flitterwochen dort verbracht haben konnte. Doch wo hatten sie sich kennengelernt? Robert Audley bat Clara Talboys, seine Frage in einer telegraphischen Depesche zu beantworten.
Die telegraphische Antwort traf gleich am nächsten Tag im Fig Tree Court ein. Der Name der Hafenstadt war Wildernsea in Yorkshire. Sofort machte sich der Anwalt auf den Weg und löste am Bahnhof King’s Cross eine Fahrkarte nach Wildernsea.
Eine kreischende Lokomotive beförderte ihn auf eine langweilige Fahrt gen Norden und hetzte über öde Weiten flachen Weidelandes, die durch frisch sprießendes Grün zart gefärbt waren. Es war schon dunkel, als der Zug die Endstation Hull erreichte. Roberts Reise war jedoch noch nicht zu Ende. Durch ein Gedränge von Gepäckträgern und an verstreuten Bergen unsinnigen und verschiedenartigsten Gepäcks vorbei, mit dem Reisende sich zu belasten pflegen, geleitete man Robert zu einem anderen Zug. Dieser sollte ihn auf einer Nebenlinie weitertransportieren, die an Wildernsea vorbeiführte und sich an der Küste der Nordsee entlangzog.
Schon bald hinter Hull roch Robert Audley die salzige Frische des Meeres in einer Brise, die durch das offene Waggonfenster hereinwehte. Eine
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