Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
selbst er einem Geist helfen kann, der krank ist.“
„Wer sagt, dass mein Geist krank sei?“, rief Lady Audley schrill.
„Ich sage es, Mylady“, erwiderte Robert. „Sie erzählen mir, dass Sie nervös und all die Arzneien, die Ihr Arzt verschreibt, lauter Mittel seien, die nicht helfen. – Soll ich Ihnen sagen, warum Sie in diesem Haus nervös sind, Mylady?“
„Wenn Sie es können“, antwortete sie herausfordernd.
„Weil Sie in diesem Haus heimgesucht werden.“
„Heimgesucht?“ Sie sah ihn mit weiten Augen an.
„Ja, heimgesucht von George Talboys’ Geist.“ Robert Audley hörte Myladys schnellen Atmen. Er glaubte das Pochen ihres Herzens hören zu können, während sie den Zobelmantel eng um sich schlang.
„Was meinen Sie damit?“, stieß sie nach längerem Schweigen hervor. „Warum quälen Sie mich mit diesem George Talboys, der es sich zufällig in den Kopf gesetzt hat, Ihnen ein paar Monate lang aus dem Weg zu gehen? Werden Sie langsam verrückt, Mr Audley? Warum haben Sie gerade mich dazu ausersehen, das Opfer Ihrer Wahnidee zu sein? Dieser Talboys bedeutet mir nichts!“
„Er war ein Fremder für Sie, Mylady, nicht wahr?“
„Natürlich“, entgegnete Lady Audley wild. „Was sollte er anderes gewesen sein als ein Fremder?“
„Soll ich Ihnen die Geschichte vom Verschwinden meines Freundes erzählen, so wie ich sie sehe, Mylady?“, fragte Robert.
„Nein!“, rief Lady Audley. „Ich will nichts über Ihren Freund wissen. Wenn er tot ist, dann tut es mir leid für ihn. Und wenn er lebt, habe ich kein Verlangen, von ihm zu hören. – Lassen Sie mich nun hineingehen zu meinem Mann, wenn ich bitten darf, Mr Audley.“ Sie versuchte sich an Robert vorbeizudrängen, doch er stellte sich ihr erneut in den Weg.
„Ich möchte Sie nur so lange aufhalten, bis Sie gehört haben, was ich zu sagen habe, Lady Audley“, erwiderte Robert.
Sie überlegte kurz. „Nun gut“, gab Mylady dann nachlässig zur Antwort und warf den Kopf zurück. „Bitte verlieren Sie keine Zeit und sagen Sie, was Sie zu sagen haben. Mich friert.“
„Als mein Freund George Talboys nach England zurückkehrte“, begann Robert, „war der vorherrschende Gedanke in seinem Geist der Gedanke an seine Frau.“
„Die er verlassen hatte, wie Sie uns sagten“, warf Mylady scharf ein.
Robert Audley beachtete diese Unterbrechung nicht. „Seine schönste Hoffnung für die Zukunft war die Hoffnung, sie glücklich zu machen und mit dem Reichtum überhäufen zu können, den er mit seinen eigenen starken Händen auf den Goldfeldern Australiens erworben hatte. Dann aber sah er eine Anzeige in der Times, die ihn vom Tod seiner geliebten Frau unterrichtete. – Ich glaube heute jedoch, dass diese Anzeige eine abscheuliche und bittere Lüge war.“
„Tatsächlich!“, bemerkte Mylady. „Und welchen Grund sollte jemand gehabt haben, den Tod von Mrs Talboys anzuzeigen, wenn Mrs Talboys noch am Leben war?“
„Die Dame selbst könnte ein Motiv gehabt haben“, entgegnete Robert ruhig.
„Ach, und welches Motiv könnte das sein?“
„Angenommen, sie hätte die günstige Gelegenheit von Georges Abwesenheit genutzt, um einen reicheren Ehemann für sich zu gewinnen. Angenommen, sie hätte noch einmal geheiratet und durch diese falsche Anzeige von ihrer richtigen Spur ablenken wollen ...“
Lady Audley zuckte mit den Achseln. „Ihre Annahmen klingen lächerlich, Mr Audley. Hoffentlich haben Sie auch triftige Gründe dafür.“
„Ich habe jede Zeitung, die in dieser Gegend erscheint, durchgesehen“, fuhr Robert fort, ohne auf Myladys letzte Bemerkung einzugehen. „Und in einer der Zeitungen von Colchester, datiert vom zweiten Juli, habe ich zwischen zahlreichen Meldungen – die bekanntermaßen von anderen Zeitungen übernommen werden –, eine kurze Notiz gefunden. Diese besagte, dass unter den Passagieren eines Schiffes aus Australien ein englischer Gentleman mit dem Namen George Talboys sei. Dieser Mann sei dort reich geworden und begäbe sich nun zu seiner Familie.“
„Ja, und?“
„Das ist natürlich kein sehr schwerwiegender Tatbestand, Lady Audley, doch er reicht aus, um zu beweisen, dass jede Person, die im Juli des letzten Jahres in Essex wohnte, von George Talboys’ Rückkehr Kenntnis gehabt haben konnte. Können Sie mir folgen?“ Lady Audley schwieg. „Ich bin der Meinung, Mylady, dass die Anzeige in der Times Teil einer Verschwörung war, die von Helen Talboys und ihrem Vater gegen
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