Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
bin, die ausnutzen will.“
„Ich weiß gar nichts!“, schrie Mylady schrill. Sie nahm ihren verzweifelten Gang durch den Raum wieder auf. „Sei still! Lass mich nachdenken!“, befahl sie. Sie hob die Hände und presste die schlanken Finger an ihre Schläfen, so als versuche sie ihren Verstand unter Kontrolle zu bringen. „Robert Audley ist bei Ihrem Mann“, sagte sie zu sich selbst. „Luke Marks ist um diese Zeit gewiss schon sinnlos betrunken und daher völlig unberechenbar. Wenn ich mich weigere, das Geld zu geben, wird es nichts nützen. Das Geld muss bezahlt werden.“
„Aber wenn Sie es bezahlen, Mylady“, warf Phoebe ein, „dann werden Sie Luke hoffentlich einschärfen, dass es das letzte Geld ist, das Sie ihm je geben werden, solange er in Haus bleibt. Sie müssen ihm das sagen, Mylady.“
„Warum?“, fragte Lady Audley. Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und sah Mrs Marks verwundert an.
„Weil mir daran liegt, dass Luke das Castle Inn verlässt. Nicht ich.“
„Und warum willst du das?“
„Oh, aus vielen Gründen, Mylady“, erwiderte Phoebe. „Er ist nicht dazu geeignet, der Wirt eines Gasthauses zu sein. Er taugt einfach nicht dafür. Seinetwegen hatten wir schon dreimal ein sehr knappes Entkommen.“
„Knappes Entkommen?“, wiederholte Lady Audley.
„Nun, durch seine Nachlässigkeit wären wir fast in unseren Betten verbrannt. Er ist betrunken und lässt die Kerzen brennend stehen. Sie wissen, was für ein altes Haus das Castle Inn ist, Mylady. Nur baufälliges Holzwerk, verrottete Dachbalken und dergleichen. Bei einem Feuer würde es wie Zunder lichterloh brennen, und nichts in der Welt könnte es retten. Luke weiß das ganz genau. Erst vor einer Woche hat er eine brennende Kerze stehen lassen, und die Flamme erfasste einen der Balken des Daches. Wenn ich nicht gewesen wäre und es bemerkt hätte, wären wir verbrannt. Sie werden daher nicht verwundert sein, dass ich Angst habe, nicht wahr, Mylady?“
Lady Audleys Gedanken kreisten um sich selbst, doch nachdem das Mädchen aufgehört hatte zu sprechen, gewannen die Worte ihre Bedeutung. „Verbrannt in euren Betten“, bemerkte sie und setzte sich zurück auf ihren Platz, neben die Frau. „Es wäre gut für mich gewesen, wenn dein Ehemann vor dem heutigen Abend in seinem Bett verbrannt wäre.“ Sofort sah sie vor ihren Augen das Bild eines brennenden Hauses. Ein schwarzer Schlund, der Feuer speit, Funken, die in den kalten Nachthimmel schießen. Sie seufzte. Luke war tatsächlich ein Problem, doch sie hatte einen anderen Feind, der weitaus gefährlicher und weder zu bestechen war noch mit Geld abgefunden werden konnte. Diesen galt es zu vernichten.
„Ich werde dir das Geld geben, damit der Gerichtsdiener fortgeschickt werden kann“, erklärte Mylady nach einer Weile und lächelte. „Ich gebe dir den letzten Sovereign aus meiner Börse. Du weißt so gut wie ich, dass ich es nicht wage, dich abzuweisen.“ Lady Audley stand auf und nahm die Lampe von ihrem Schreibtisch. „Das Geld ist in meinem Ankleidezimmer“, sagte sie. „Ich werde gehen und es holen.“
„Oh, Mylady“, entfuhr es Phoebe plötzlich. „Ich habe etwas vergessen! Ich war so außer mir wegen dieser Geschichte, dass ich es vollkommen vergaß.“
Lady Audley drehte sich zu ihr um.
„Es ist ein Brief, den der junge Mr Audley mir für Sie mitgegeben hat, Mylady, gerade als ich das Haus verlassen wollte. Er hatte gehört, wie mein Mann mich zu Ihnen schickte. Da bat er mich, diesen Brief mitzunehmen.“
Lady Audley stellte die Lampe auf dem Tisch in ihrer Nähe ab und streckte zitternd die Hand aus.
„Gib ihn mir ... gib ihn mir!“, schrie Mylady. Voll wütender Ungeduld entriss sie Phoebe den Brief. Sie schleuderte den Umschlag von sich, konnte in ihrer heftigen Erregung das Blatt Papier kaum entfalten. Der Brief war sehr kurz: „Mrs Barkamb, die Besitzerin der North Cottages in Wildernsea, ist einverstanden, Licht in diese Angelegenheit zu bringen, um damit entweder einen Irrtum richtigzustellen oder einen Verdacht zu bestätigen. Robert Audley, Castle Inn, Mount Stanning.“
Ihr waidwunder Schrei erfüllte das Haus bis in seinen letzten Winkel.
Buch drei
1. Kapitel
B eim silbrigen Schein des Lampenlichtes schritt Lady Audley in ihrem Ankleidezimmer auf und ab und grübelte. Lange Zeit wanderte sie in dieser monotonen Weise hin und her, bevor es ihr gelang, ihre Gedanken zu sammeln und die
Weitere Kostenlose Bücher